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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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versuchte, mich an die Fakten zu halten. Aber während ich schrieb, schlichen sich andere Sachen ein – kleine erfundene Geschichten. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wollte sie rausstreichen, aber irgendwie wurde die Erzählung dadurch weniger wahr. Also nahm ich sie wieder rein und die Geschichte wurde wahrhaftiger, allerdings stimmte sie nicht unbedingt mit meinen Erinnerungen überein, jedenfalls nicht in allen Details.
    Dr. Cyrus lachte und meinte, was ich erlebe, sei normal. Unsere Gehirne seien seltsame Computer, die unser Gedächtnis ständig ergänzten und sogar wahre Ereignisse löschten, wenn diese nicht zu der Erzählung passen, die wir uns jeden Tag zurechtlegen, der Erzählung unseres Lebens.
    Jeder ist der Held seiner eigenen Märchen , so hat er’s ausgedrückt. Mach dir keine Gedanken, was wahr ist und was nicht, damit machst du dich nur verrückt. Schreib einfach nur. Schreib alles auf .

(… selbstmordversuch nummer eins …)

    Mustafa wollte nicht geboren werden.
    Seine Mutter wollte ihn zur Welt bringen, aber er wollte nicht rauskommen. Also wickelte er sich die Nabelschnur um den Hals und um den großen Zeh, um sich zu erwürgen. Es war aber wenig Platz, er wog schon zehn Pfund, und sein Kopf war so groß wie ein halber Brotlaib, und so genau wusste er sowieso nicht, was er da tat. Er trat und wand sich, mehr aus Frust als alles andere.
    Seine Mutter interpretierte seine Tobsuchtsanfälle irrtümlich als Verlangen, endlich geboren zu werden. Sein Vater brachte sie ins Krankenhaus, aber die Ärzte und Schwestern feierten den achten März, den Internationalen Frauentag. Sie waren angetrunken und laut, ihre Münder fettig vom Genossenschaftsessen. Sie ließen Mustafas Mutter bis zum nächsten Tag warten. Obwohl sich das zu seinem Vorteil auswirkte (mehr Zeit, sich umzubringen), blieb ihm das Fehlverhalten der Ärzte und Schwestern nicht verborgen, und hätte er sprechen können, hätte er die Vertreter des jugoslawischen Gesundheitswesens als grob fahrlässig bezeichnet.
    Er trat und trat und wurde ohnmächtig, und sie nutzten seine abrupte Bewegungsunfähigkeit, um ihn ins Leben zu zerren. Jubel ringsum, nur nicht in seinem Kopf.

(… früher Kummer …)
Früheste Erinnerung
    Ein heißer Sommertag. Großmutter holte lächelnd ein Beil aus dem Schuppen und hängte es auf einen Ast des dürren Kirschbaums im Hof. Ich lag auf einem Schaffell im Schatten eines Rosenbuschs und sah einem Huhn dabei zu, wie es versuchte zu fliehen. Es schlug mit seinen weißen Flügeln, eine seiner gelben Krallen war mit einem Seil an einen Pflock gebunden, der mitten im Gras steckte. Es flog auf, schaffte es ungefähr einen Meter hoch in die Luft, dann flatterte es wieder zu Boden, fest verankert. Eine Sekunde lang stand es da, balancierte auf einem Bein, zwinkerte, neigte den Kopf zur Seite und versuchte es erneut.
    Als Großmutter kam, drehte es durch, flatterte herum in einem Wirbel aus fliegenden Federn. Das Geräusch der Flügel war tief und gedämpft wie Applaus, wenn man Handschuhe trägt. Großmutter schmunzelte, als sie auf das Seil trat, dem Huhn immer näher rückte, seine Flugzone verkleinerte. Zum Schluss fing sie es, löste das Seil, nahm das Beil vom Kirschbaum, klemmte sich das erschrockene Huhn unter den linken Arm und ging hinter den Schuppen.
    Ich stand auf und watschelte ihr hinterher, aber sie hörte mich und rief, ich solle wegsehen. Kurz stand ich reglos an der Ecke des Schuppens, aber dann guckte ich doch. Ich sah sie auf dem Vogel knien, sie versuchte, seine Flügel zu bändigen und ihn so zu fassen, dass sie seinen Kopf auf einenStumpf drücken konnte, zwischen Sägemehl und Holzspänen. Sie sah mich nicht, sie kehrte mir den Rücken zu.
    Der erste Schlag mit dem Beil ging daneben. Der zweite war schwach und fast wirkungslos, zu nah an der dicken Brust. Der dritte traf den Hals, trennte den Kopf aber nicht vom Rumpf. Der vierte schnitt dem Huhn den Kopf ab, aber Großmutter konnte es nicht mehr halten, es flog vier oder fünf Meter weit und landete direkt vor mir im Gras. Es machte ein paar Schritte und breitete die Flügel aus, als wäre es stolz, entkommen zu sein. Aus dem Hals spritzte Blut, das die weißen Federn schrecklich rot färbte, doch das schien gar kein Problem zu sein. Es plusterte die Federn auf, wobei etwas Blut auf meine nackten Beine spritzte, es scharrte mit den Füßen im Gras, beugte sich vornüber und machte, einem schrecklichen Impuls der Muskeln folgend, Anstalten

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