Sophie Scholl
DIE ELTERN
Es war Freitag, der 21. November 1941, mitten im Krieg, als Lina Scholl, auf Besuch im Städtchen Forchtenberg im Hohenloher Land, an ihren Mann daheim in Ulm schrieb: »Lieber Robert! Da wir am 23. nicht beisammen sind, so möchte ich Dir wenigstens auf diese Weise einen kleinen Gruß senden. … Gerne möchte ich an dem Tag und Ort, da wir uns vor 25 Jahren die Hände reichten zum gemeinsamen Wandern durch dieses Leben, verweilen, besonders da ich so in der Nähe bin. … Ich freue mich sehr, bis ich wieder daheim bin und Dir die nächsten 25 Jahre so schön und gut gestalten kann, wie es mir möglich ist. Wir haben uns ja genügend kennen gelernt in unseren Vorzügen und Schwachheiten, so dass es keine Frage ist, ob wir weiterhin miteinander wandern in Freud und Leid, vielleicht auch, was vorauszusehen ist, durch schwere Tage. Doch was von außen kommt, zerbricht die Liebe und Treue nicht, bindet sie eher noch fester. Und dann haben wir die Kinder, die zur Zeit je länger, je fester werden in ihrem Glauben an den wahren Gott und in ihrer Lebens- und Weltanschauung. … Denn das schönste Wort, das es für Eltern gibt, ist doch dies: Herr, hier sind wir und die Kinder, wir haben der keines verloren, die Du uns gegeben hast.«
Vor 25 Jahren: Am 23. November 1916, auch damals war Krieg, heirateten in der Kirche von Geißelhardt, gute zehn Kilometer westlich von Schwäbisch Hall, die fünfunddreißigjährige Lina Müller und der fünfundzwanzigjährige Robert Scholl. Es war ein Tag der Freude und der Trauer. Denn vor dem Gang zum Traualtar lag der Gang zum Friedhof, um Robert Scholls Mutter Christiane, die am 21. November gestorben war, zu begraben.
Das Wechselbad der Gefühle konnte die Hochzeitsgesellschaft nicht überraschen. Im Frühjahr 1916 hatten Robert Scholls Brüder Christian, 28, und Gottlob, 19 Jahre alt, an der westlichen Front ihr Leben gelassen. Als »Heldentod« und »Opfergang« verklärten deutsche Generäle und Politiker das Sterben hunderttausender Männer in den schlammigen Feldern von Flandern und in den Schützengräben um Verdun. Auch die Heimat, die Städte und Dörfer, aus denen die Soldaten im Spätsommer 1914 mit klingendem Spiel, blumenbekränzt und unter dem Jubel der Zurückbleibenden in die Schlacht gezogen waren, blieben nicht verschont. Einige skrupellose Zeitgenossen machten als Kriegsgewinnler ihr Geschäft. Den meisten Menschen brachte der Erste Weltkrieg Verelendung und Abstieg.
Das Realeinkommen sank um vierzig Prozent. Eine massive Inflation entwertete den ohnehin geringen Verdienst. Die Lebensmittelversorgung brach zusammen. Eine dreiviertel Million Menschen starben zwischen 1914 und 1918 in Deutschland an Hunger. Besonders der Winter 1916/17 sollte schrecklich werden; »Rübenwinter« wurde er genannt, da Rüben bald die einzige Nahrung weit und breit waren. Die Kindersterblichkeit nahm um dreißig Prozent zu, die Abtreibungsquote stieg. Die Heiratsquote ging um achtzig Prozent zurück. Nachdenkliche Köpfe ließen sich vom falschen Pathos nicht blenden.
»Immer muss ich wieder daran denken, wie schön wir leben könnten, wenn wir jetzt beieinander und Friede im Lande wäre. … Unter dieser Stimmung und Sehnsucht bin ich oft bedrückt und da bin ich am liebsten allein. Die militärische Welt ist doch manchmal recht unschön. Wie froh bin ich da, dass ich Dich habe, die Du so viel anders bist als die meisten Menschen.« Das hatte Robert Scholl am 1. Februar 1916 an Lina Müller geschrieben, die bei ihren Eltern in Künzelsau Urlaub machte. Seit dem Frühjahr 1915 arbeiteten beide zusammen im Lazarett II für verwundete Soldaten in Ludwigsburg bei Stuttgart: Lina Müller, Diakonisse von Beruf – am 5. Mai 1881 geboren und auf den Namen Magdalena getauft, doch von Kind auf Lina genannt –, und der zehn Jahre jüngere Sanitäter Robert Scholl.
Die Du so viel anders bist als die meisten Menschen: Wenn für die meisten gilt, dass sie zufrieden sind, ihr Leben im Umfeld und Milieu ihrer Eltern und Großeltern zu verbringen, dass sie keine Kraft und kein Selbstvertrauen haben, für eigene Überzeugungen einzustehen, dass der Krieg ihnen die Hoffnung auf eine bessere Welt genommen hat – dann wussten Lina Müller und Robert Scholl, als sie am 23. November 1916 ihre Liebe öffentlich besiegelten, wie sehr es sie beide verband, anders zu sein.
Obwohl ein Jahrhundert vergangen ist, haben sich Briefe erhalten, die bis in Lina Müllers Leben vor der Hochzeit
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