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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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zu fressen, als wolle es etwas vom Boden picken mit dem Schnabel, der einige Meter weiter auf einer kleinen Düne aus blutgetränktem Sägemehl lag, bereits still im Tod.
Mit drei Jahren
    Als Marschall Tito starb 2 , kackte ich mir in die Hose. Beide Ereignisse stehen in keinerlei Verbindung zueinander.
    Es muss ein Werktag gewesen sein, weil ich bei meinen Großeltern in Gornja Tuzla war. Meine Eltern hatten offenbar noch nicht Feierabend – sie kamen an Werktagen jeden Nachmittag nach der Arbeit vorbei und nahmen mich an den Wochenenden und Feiertagen mit nach Hause, nach Tuzla. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass sie da waren. Mir war hundeübel, weil ich mich an irgendwas überfressen hatte, und ich lag in Embryohaltung auf dem L-förmigen Sofa.
    Es war kalt. Mein Großvater saß in seinem Sessel am Fenster und rauchte seine Zigaretten. Er saß auf seinem rechten Fuß, hatte das linke Knie an die Brust gezogen und starrte mit nachdenklichem Gesichtsausdruck, der sich vor allem auf seiner Stirn bemerkbar machte, hochkonzentriert auf seinen steinalten Schwarz-Weiß-Fernseher. Ich merkte, wie sich mein Magen verkrampfte, und plötzlich war es in meiner Unterhose nass und warm. Es dauerte eine Sekunde, bis ich begriff, was passiert war, und als ich es verstanden hatte, brach ich sofort in Tränen aus. Meine Großmutter stand in der angrenzenden Küche hinter dem grünen Vorhang, und als ich sie rief, schrie mich mein Großvater an, ich solle still sein.
    Er hatte nie zuvor die Stimme gegen mich erhoben. Ich glotzte auf den Fernseher, um zu sehen, was Anlass dieses Ausbruchs gewesen sein mochte. Ein grauer Platz war zu sehen, darauf Menschen, dunkel vor dem Asphalt. Sie standen da wie angewurzelt und weinten. Aus Lautsprechern heulten Sirenen. Die jammernde, melodramatische Stimme eines Nachrichtensprechers bebte vor Emotionen.
    Verängstigt und mit voller Hose fing ich wieder an zu weinen, und mein Großvater rief meine Großmutter, damit sie mich zum Schweigen brachte und den Fernseher lauter drehte, weil Tito gerade gestorben war. Sie kam hereingestürmt und nahm mich auf den Arm, sprach geistesabwesend ein arabisches Gebet für die abgeschiedene Seele des kommunistischen Führers. Ihre Hände waren feucht und kalt von der Küchenarbeit und rochen nach Äpfeln. Sie tätschelte mir die Brust und flüsterte, wir müssten leise sein, denn es sei ein bedeutender Tag, dann drehte sie den Regler auf eine fast unerträgliche Lautstärke und trug mich durch den grünen Vorhang in die Küche.
Mit vier Jahren
    Wir wohnten im achten Stock eines hässlichen grauen Gebäudes in der Brčanska Malta. Alle drei Räume unserer Wohnung zeigten nach Süden, was bedeutete, dass wir direkt auf die beiden neuesten und größten Hochhäuser Tuzlas blickten. Ich war in der Küche, die zugleich unser Esszimmer war, und zeichnete einen orangefarbenen Bulldozer, der einen Haufen gelben Sand hinten auf einen roten Laster lud. Zwischen unserem Gebäude und einem der beiden Hochhäuser befand sich eine Baustelle, von der ich mich inspirieren ließ.
    Als ich aus dem Fenster sah, fiel mir ein grauer, vom Wind aufgeplusterter Mantel auf, der sich von der Wäscheleine auf einem der Balkone der obersten Stockwerke des Hochhauses löste und runterfiel. Es musste ein sehr schwerer Mantel gewesen sein, denn er fiel sehr schnell. Dann versammelten sich Passanten um den Mantel, Dutzende und es wurden immer mehr, sie eilten darauf zu, zeigten mit den Fingern und schlugen die Hände vor die Münder.
    Ich sagte es meiner Mutter. Sie kam, umarmte mich von hinten und blickte hinaus. Die Passanten rannten und winkten den Autos auf der Straße. Ein weißer Cinquecento fuhr über den Bordstein auf den Bürgersteig und über den Bürgersteig aufs Gras, raste hupend auf die Menschenmenge zu.
    Warum gucken die Leute den Mantel an? , fragte ich.
    Mutter legte mir die Hand auf die Augen und fragte mich, ob ich Limonade wolle. Sie ließ die Jalousien runter und machte das Radio an.
Mit sechs Jahren
    Mit sechs Jahren wurde ich eingeschult, und weil meine Eltern beide arbeiteten und jetzt mein Bruder unter der Woche bei meinen Großeltern war, wurde ich Schlüsselkind. Ich liebte und hasste es gleichermaßen. Unterrichtet wurde wegen Überfüllung in zwei Schichten, und da ich erst nachmittags dran war, schlief ich so lange wie möglich, ließ ununterbrochen den Fernseher laufen und »las« alle Bücher in der Bibliothek meiner Muttter – die medizinischen

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