Scherbengericht: Roman (German Edition)
Palette von Maßnahmen für die nachhaltige Entwicklung der Mapuche-Siedlung, wenn auch an einem anderen Ort. Die Firma erwarte einen offenen, aber vernünftigen Gedankenaustausch über ihr Angebot. Abschließend bat er den Bürgermeister, auf Kosten des Unternehmens alkoholfreie Getränke bereitzustellen und entschuldigte sich für den Termin. Er wisse, dass alles für die Silvesterfeier vorbereitet sei, noch dazu für den Beginn eines Jahrhunderts und eines neuen Jahrtausends, und er bedanke sich schon einmal im Voraus für die bereitwillig gewährte Hilfe. Am Morgen danach müsse er allerdings sehr früh nach Quemquemtréu aufbrechen.
Martin Holberg las seine Epistel nicht mehr durch. Viel zu lang geraten, zu institutionell gestelzt: »Palette«, »nachhaltige Entwicklung«, »offen, aber vernünftig« – erschwert das eine denn zwangsläufig das andere? Also rasch auf »send« klicken und weg mit dem Scheiß! Sowieso waren die Aussichten für das ganze Vorhaben eher trüb. Alter Sperrmüll aus seinem auslaufenden Beruf – aus seinem früheren Leben schon –, den er mit Dr. Elias Königsberg, seinem Seelen-Bulldozer, noch immer nicht ganz weggeräumt hatte!
An der Bar – er musste nach der Bedienung klingeln – ließ sich Martin eine Flasche Pinot Noir entkorken und ein Glas geben. Seitdem Katha – wenngleich mit Rückfällen wie vorhin – nicht mehr trank, verbarg er vor ihr seine Sucht. Er hatte einen dieser neuen patagonischen Weine verlangt, die in Buenos Aires in Mode gekommen waren. »Saurus« stand auf dem Etikett, quer über dem fein gestochenen Umriss eines Patagosaurus. Der Kellerei war wohl bewusst gewesen, dass diese Weltgegend seit Darwins Entdeckungsreise weit eher für urzeitliche Fossilien als für irgendwelche Weinsorten bekannt war.
Martin trat vor das Motel. Auf dem Parkplatz stieg ihm wieder der Algen- und Fischgeruch in die Nase. Obwohl er vorgehabt hatte, sich noch den Himmel über der Brandung anzusehen, warf er sich in den Wagen und schob eine Erik-Satie- CD ein. Er hob das Glas gegen die Lichter des flachen Gebäudes, füllte es und prostete dem kauzigen Komponisten zu: »Ein edler Tropfen aus dem Jurassic Park!« Der Wein war höchst genießbar, weshalb Martin den Namen »Saurus« wegen der naheliegenden Pointe nicht glücklich fand – aber die ergab sich im Spanischen ja eh nicht. In Gedanken und Selbstgesprächen pendelte er unbewusst zwischen beiden Sprachen hin und her. Das setzte sich in den Träumen fort. Das verdankte er der Mutter, die darauf bestanden hatte, mit ihm ohne Unterlass ihr österreichisches Deutsch zu sprechen. So hatte sie es auch von den Enkeln verlangt und eigentlich von allen, die ihr näherkommen wollten. Bei Elias führte es zu dialektaler Komik: Der stammte aus Fürth und versuchte in Hörweite Clementines immerzu, seinen mittelfränkischen Originalton zu verwienern.
Kathas Parfüm im Wageninneren. Er sieht sie im Bett, nach ihrer Art chaotisch in die Decke verknäult, das rotblonde Haar über dem Kissen ausgeschüttet. Sie schläft. Das Profil, ihrer Mutter so ähnlich! Judith hatte die täuschend simplen Klavierstücke Saties nur zur eigenen Beruhigung gespielt, den gemessen dahinschreitenden Gymnopédies mit einem Lächeln nachgesonnen. Die Erinnerung an ihr Sterben sickerte nicht ein, nahm nicht allmählich Gestalt an, ließ die Bilder und Stimmen und Laute jener Tage nicht langsam aus der Vergangenheit an ihn herankommen. Nein: Es bricht stets auf einmal herein – ungestüm, brennend, stechend, schneidend, schrill. Er hielt den Atem an, bis es abgeklungen war.
Wie doch ein beständiges, gleichsam etabliertes Unglück einen immer wieder gnädig und hinterhältig in die Normalität entlässt! Es taucht im Tagesablauf unter, stellt sich tot – und packt dann unversehens wieder zu, zwingt dich unter sein Joch zurück. Katha, wochenlang den ganzen Tag im Bett der toten Mutter, in den Fernseher stierend, die Knie ans Kinn gepresst … Doch gleich darauf ließ Martin dieses heute noch beklemmende Bild der Tochter von einer lichten, schwerelosen Szene aus ihrer Kindheit überstrahlen. Sonnige Camargue, frühsommerliches Saintes-Maries-de-la-Mer: Er steht im Kreis der Zuhörer um Manitas de Plata, fühlt Kathas leichte Last auf den Schultern, wird entführt vom rauen Cante Jondo und den langsam ertasteten, plötzlich aufbrausenden Akkorden der Gitarre. In der Gruppe lassen einige ihre Köpfe lose taumeln, andere, wie Judith und der kleine Gabriel,
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