Scherbengericht: Roman (German Edition)
»Denker« auf dem Konfliktfeld »Biosoziologie und Ethik«. Hinter solch einem umfassenden humanistischen Angebot dürfe eine gereifte, weise Persönlichkeit erwartet werden, ein Wiedergänger von Lévi-Strauss etwa – nicht ein inwendiger Zweifelbruder, ein an seiner Sache und an sich selbst Verzweifelnder, ein Defätist und potenzieller Saboteur des eigenen Gewerbes.
Elias Königsberg hatte damals ausführlich genickt – ganz Ohr, aber eben nur Ohr. Es war das erste Mal, dass Dr. Martin Holberg irgendjemandem gegenüber seine Schwächen so eindringlich eingestand. »Anfangs habe ich gemeint, ich könne eventuell mit Kathas neuer, spontan-erratischer Lebensführung mithalten. Auch meinem Sohn wollte ich zeigen, dass ich nicht mehr der pädagogische Pedant bin, der ihm verhasst ist. Doch es war mir nicht möglich, gemeinsame Sache mit den beiden zu machen. Ich kann mein Leben nicht zurückspulen und alles ignorieren, was sich angehäuft und in mich eingefressen hat. Die Lebenslast lässt sich nicht einfach abwerfen, sie muss mein eigener Stoff bleiben, um die reinigende Verwüstung meines Inneren zu ermöglichen. Katharsis! In der eigenen Kindheit muss ich ansetzen – dort, im steten Tropfen der Einflüsterungen meiner Mutter, die zur wahrhaft ›nachhaltigen‹ Gehirnwäsche wurden.« Und um sich dem Arzt nicht völlig als ein dümmlich die Hosen herunterlassender Patient auszuliefern, blieb ihm nichts anderes übrig als Königsberg ironisch anzugehen: »Na, Herr Doktor – auf so ein Geständnis hin müsste doch jedem Analytiker das Herz lachen!«
Übereilt, zusammengewürfelt, stockend hatte er all das während der ersten Sitzung vorgebracht. Und nach dem letzten Satz verdoppelte er die Herausforderung noch: »Sie müssen mir helfen, mit dem quälendsten Widerspruch meiner Biografie, mit ihrem faulen, fatalen Kern fertig zu werden! Nur habe ich dafür kein passendes Wort. Im tiefsten Grund habe ich einen Hang zu herabsetzender, dünkelhafter Diskriminierung, der mit meiner persona – mit meiner Bildung oder Kultur, wenn Sie mir das gestatten wollen, mit meinem Wissen und meinem internationalen Wirken – unvereinbar ist. Ein inneres, intimes Skandalon, von dem ich niemanden etwas merken lasse. Offenbar habe ich mich schon als kleiner Bub über die Muttermilch mit einem Absud menschenverachtender Vorurteile vollgesogen – und mit dem Urkeim der Niedertracht, mit dem Antisemitismus.«
Der Psychiater, dessen großer Kopf sich horchend zum schmalen Brustkorb gesenkt hatte, schien eher erwachend als überrascht aufzublicken und ermutigte Martin dadurch, jetzt einfach die Sau rauszulassen und »alles« zu sagen – nämlich dass die krass spießbürgerlichen Nazi-Sympathien Clementines der Urquell seiner eigenen, von Vorurteilen geprägten Einstellung seien, die wiederum in Konflikt stünde mit der vom Vater ererbten, weltoffenen Haltung, mit seiner Liebesheirat und Judith, mit seiner Anhänglichkeit ihrer jüdischen Familie gegenüber, mit seinem tiefen und unüberwindbaren Schmerz über ihren Tod.
»Den Urkeim meiner versteckten Niedertracht hat meine österreichische Mutter in mich gesetzt.« Also gut, jetzt war’s heraus, war’s gesagt, ohne Rücksicht darauf, dass die Königsbergs und seine Eltern jahrzehntelang ihre Sommerfrische gemeinsam auf dem Bauernhof der Laglers zu verbringen pflegten, und ohne zu bedenken, dass seine greise Mutter sich mit dem Seelenarzt auch nach dem Tod des Vaters weiterhin glänzend zu verstehen schien. Wie passte es überhaupt zusammen, dass ausgerechnet die Mama es gewesen war, die den Familienfreund Elias zu »Plaudereien« (wie sie es auch noch nannte) mit ihrem Sohn überreden konnte – nahm doch der Therapeut, damals bereits vierundachtzig, längst keine neuen Klienten mehr an. Nur konnte Mama natürlich nicht ahnen, was ihr »Großer« dem guten alten Freund schon in der ersten Sitzung alles ausplaudern würde …
Prostend trank Martin wieder vom Pinot Noir – »Keine Spur von sauer, unser Saurus!« – und persiflierte nun, pietätlos die Muttersprache auswalzend, eine jammernde Clementine: »Weißt du, Elias, die Judith hat meinen Martin durch ihren Tod ganz einfach sitzen lassen – mit zwei völlig verdorbenen Kindern, die ihm nichts als Scherereien machen und ihm keine Ruhe für seine großen internationalen Aufgaben gönnen. Er braucht die Hilfe eines Therapeuten, dem er vertrauen kann. Denn seine Gattin – ich sage es mit allem Respekt vor der Verstorbenen
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