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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Hoffnung geweckt und dann zerschlagen wurde. Nach einer Weile gab ich den Gedanken, ein Schiff könne mich retten, einfach auf. Wenn der Horizont von einem anderthalb Meter hohen Standort vier Kilometer weit fort war, wie nahe musste er dann sein, wenn ich auf meinem Floß saß und ihn aus vielleicht neunzig Zentimetern Höhe sah? Wie groß war denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schiff, das die Unendlichkeit des Pazifiks befuhr, ausgerechnet diesen winzigen Zirkel kreuzte? Und dass es ihn kreuzte und
mich sah
- wie wahrscheinlich war das? Nein, auf die Menschheit, unzuverlässig, wie sie war, konnte ich nicht zählen. Ich musste Land finden, hartes, festes, sicheres Land.
    Ich weiß noch, wie die ausgebrannten Signalfackeln rochen. Es war nur eine Kuriosität der Chemie, aber sie rochen genau wie Kreuzkümmel. Es war betörend. Ich schnupperte an den Kunststoffhüllen, und sofort erschien Pondicherryvor meinem inneren Auge, ein wunderbarer Trost dafür, dass ich um Hilfe gerufen und niemand mich gehört hatte. Es war ein ungeheuer starker Eindruck, fast eine Halluzination. Aus einer einzigen kleinen Rauchfahne entwickelte sich eine ganze Stadt. (Und wenn ich heute Kreuzkümmel rieche, sehe ich den Pazifischen Ozean.)
    Richard Parker erstarrte jedes Mal, wenn eine Signalfackel zischend zum Leben erwachte. Seine Augen, die Pupillen klein wie Stecknadelköpfe, waren fest auf die Flamme geheftet. Für mich war die blendend weiße Fackel mit dem rosa Lichtkranz zu hell. Ich musste wegsehen. Ich hielt die Fackel mit ausgestrecktem Arm in die Höhe und schwenkte sie langsam hin und her. Etwa eine Minute lang sprühten Funken auf meinen Arm, und alles war in ein unwirkliches Licht getaucht. Das Wasser rund um das Floß, noch Sekunden zuvor undurchdringlich schwarz, zeigte sich nun wimmelnd vor Fisch.

Kapitel 70
    Schildkröten waren Schwerstarbeit. Ich fing mit einer kleinen Karettschildkröte an. Ich hatte es auf ihr Blut abgesehen, den »guten, gesunden, salzfreien Trunk«, von dem das Überlebenshandbuch schrieb. So sehr quälte mich der Durst. Ich packte die Schildkröte am Panzer und umklammerte eine Hinterflosse. Als ich sie fest im Griff hatte, drehte ich sie im Wasser um und wollte sie auf das Floß zerren. Sie wehrte sich mit aller Kraft. Auf dem Floß würde ich nie mit ihr fertig werden. Entweder ließ ich sie los - oder ich versuchte mein Glück im Rettungsboot. Ich blickte zum Himmel. Es war ein heißer, wolkenloser Tag. An Tagen wie diesem, wenn die Luft glühte wie in einem Backofen und er nicht vor Sonnenuntergang unter der Plane hervorkam, hatte Richard Parker offenbar nichts dagegen, dass ich im Bug des Bootes war.
    Mit einer Hand hielt ich die Hinterflosse der Schildkröte fest, mit der anderen zog ich mich am Seil zum Rettungsboot hinüber. Es war nicht leicht, an Bord zu klettern. Als ich es endlich geschafft hatte, riss ich die Schildkröte in die Höhe und schleuderte sie mit dem Rücken auf die Plane. Wie erhofft knurrte Richard Parker lediglich ein- oder zweimal. Nach mehr stand ihm bei dieser Hitze nicht der Sinn.
    Ich war wild entschlossen. Ich spürte, dass ich keine Zeit zu verlieren hatte. Das Überlebenshandbuch war zugleich mein Kochbuch. Es hieß, man solle die Schildkröte auf den Rücken drehen. Erledigt. Dann das Messer »am Hals ansetzen« und die Arterien und Venen durchtrennen. Ich betrachtete die Schildkröte. Kein Hals zu sehen. Die Schildkröte hatte sich in ihren Panzer verkrochen. Alles, was ich von ihrem Kopf sah, waren die Augen und das schnabelförmige Maul, das Ganze umringt von dicken Hautwülsten. Sie musterte mich von unten herauf mit strengem Blick. Ich griff zum Messer und stach in eine der Vorderflossen, in der Hoffnung, sie so aus der Reserve zu locken. Aber sie zog sich nur noch weiter in ihren Panzer zurück. Also entschloss ich mich zu einer direkteren Methode. So selbstverständlich, als hätte ich es schon tausendmal getan, stieß ich das Messer schräg neben dem Kopf in den Körper der Schildkröte. Ich bohrte die Klinge tief in die Hautfalten und drehte das Messer. Die Schildkröte zog sich noch weiter zurück, besonders da, wo die Messerklinge steckte. Plötzlich schnellte ihr Kopf nach vorn. Sie schnappte nach mir. Ich sprang beiseite. Alle vier Flossen kamen unter dem Panzer hervor, und das Tier versuchte zu fliehen. Sie schaukelte auf dem Rücken, schlug heftig mit den Flossen um sich und schleuderte den Kopf hin und her. Ich packte ein Beil und schlug

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