Schiffbruch Mit Tiger
orientierte im spirituellen, nicht im geographischen Sinne. Wie man den Nachthimmel als Straßenkarte nehmen konnte, davon wusste ich nichts. Die Sterne mochten noch so funkeln - wie sollten sie mir denn den Weg weisen, wenn sie selbst über den Himmel zogen?
Nach einer Weile gab ich es auf. Was ich erfuhr, würde mir ja doch nichts nützen. Ich hatte keinen Einfluss darauf, in welche Richtung ich fuhr - kein Steuer, keine Segel, kein Motor, ein paar Ruder, aber nicht die Muskeln dazu. Wozu sollte ich mir denn einen Kurs ausdenken, wenn ich ihn doch nicht halten konnte? Und selbst wenn ich es gekonnt hätte, wusste ich denn, welches die richtige Richtung war? Nach Westen, von wo ich gekommen war? Ostwärts nach Amerika? Nach Norden, Richtung Asien? Nach Süden, wo die großen Schifffahrtsrouten waren? Alle vier schienen gute und schlechte Richtungen zugleich.
Also ließ ich mich treiben. Wind und Meeresströmungen bestimmten, wohin ich fuhr. Wie für alle sterblichen Wesen war auch für mich Zeit und Entfernung eins - ich war unterwegs auf der Stra-ße des Lebens -, und meine Finger hatten anderes zu tun als die Breitengrade zu ermitteln. Später fand ich heraus, dass ich mich immer auf einer schmalen Straße gehalten hatte, dem, wie die Wissenschaft sagt, äquatorialen Gegenstrom.
Kapitel 66
Ich warf Haken aller Art nach Fischen aller Art aus, in jede erdenkliche Tiefe, versuchte es vom Tiefseeangeln mit großen Haken und vielen Gewichten bis hin zum Fischen an der Oberfläche mit kleineren Haken und nur ein, zwei Gewichten. Der Erfolg ließ auf sich warten, und wenn er sich einstellte, freute ich mich gebührend, aber meine Anstrengung stand in keinem Verhältnis zum Fang. Der Zeitaufwand war groß, die Fische waren klein und Richard Parker blieb stets hungrig.
Am Ende erwiesen die Fischhaken sich als das bessere Werkzeug. Sie bestanden aus drei zusammenschraubbaren Teilen: zwei röhrenförmigen Elementen, die den Schaft bildeten - einer davon mit einem Plastikgriff am Ende und einem Ring zum Festbinden der Sicherungsleine -, und einem gebogenen Haken von etwa fünf Zentimetern Durchmesser mit einer messerscharfen, mit Widerhaken versehenen Spitze. Insgesamt war so ein Fischhaken etwa anderthalb Meter lang und fühlte sich so leicht und robust an wie ein Schwert.
Anfangs fischte ich im offenen Wasser. Ich hielt den Fischhaken einen guten Meter tief ins Wasser, bisweilen mit einem Fisch als Köder auf den Haken gespießt, und wartete. Ich wartete stundenlang mit angespannten Muskeln, bis mir der ganze Körper schmerzte. Sobald ein Fisch genau an der richtigen Stelle war, riss ich den Fischhaken so schnell wie möglich mit aller Kraft nach oben. Dabei kam es auf Bruchteile von Sekunden an. Ich erkannte, dass ich nicht wild zuschlagen durfte; ich musste ruhig abwarten, bis die Chance groß genug war, denn auch Fische lernen durch Erfahrung und gehen nur selten zweimal in die gleiche Falle.
Im Idealfall bohrte sich der Haken fest in den Fisch, und ich konnte meinen aufgespießten Fang ohne Schwierigkeiten an Bord ziehen. Doch wenn ich einen großen Fisch nur an Bauch oder Schwanz erwischte, konnte er nicht selten entfliehen; er bäumte sich auf und schnellte mit aller Kraft davon. Mit einer solchen Verletzung wurde er zur leichten Beute, ein unbeabsichtigtes Geschenk für andere Räuber. Deshalb zielte ich bei großen Fischen auf eine Stelle unterhalb der Kiemen und der Seitenflossen, denn ein Fisch, der dort getroffen wird, versucht instinktiv nach
oben
zu fliehen, fort vom Haken und damit genau dahin, wo ich ihn haben wollte. Dann kam es vor, dass mir ein Fisch, mehr gestochen als tatsächlich aufgespießt, aus dem Wasser heraus geradewegs ins Gesicht sprang. Mein anfänglicher Ekel vor der Berührung mit Meerestieren verlor sich rasch, und die alberne Fischdecke hatte bald ausgedient. Sobald ein Fisch aus dem Wasser sprang, traf er auf einen hungrigen Jungen, der ohne Skrupel und falsche Scheu zupackte. Wenn ich weniger gut getroffen hatte, ließ ich den Haken los - ich hatte ihn ja schließlich mit einem Seil am Floß gesichert - und packte den Fisch mit bloßen Händen. Finger waren zwar stumpf, aber sehr viel wendiger als ein Haken. Dann folgte ein kurzer, erbitterter Kampf. Die Fische waren glitschig und verzweifelt, ich selbst war bloß verzweifelt. Hätte ich doch nur so viele Arme gehabt wie die Göttin Durga - zwei für die Fischhaken, vier für die Fische und zwei für die Beile. Doch ich musste mich
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