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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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dem Wasser ziehen konnte.
    Und das alles mir als Vegetarier. Als Kind hatte ich gezittert, wenn ich eine Bananenschale aufriss, denn für meine Ohren klang es, als bräche ich einem Tier das Genick. Ich war auf eine Stufe der Barbarei gesunken, die ich nie für möglich gehalten hätte.

Kapitel 67
    An der Unterseite des Floßes siedelte sich mancherlei maritimes Leben an, ähnlich wie beim Netz, nur in kleinerem Umfang. Es begann mit weichen hellgrünen Algen, die sich unter den Schwimmwesten breit machten. Borstige, dunklere Algen kamen hinzu. Sie fühlten sich wohl und bildeten bald einen dichten Teppich. Die ersten Tiere tauchten auf. Als Erstes sah ich winzige, halb durchsichtige Garnelen, kaum anderthalb Zentimeter lang. Als Nächstes folgten Fische im gleichen Format, die aussahen wie ihr eigenes Röntgenbild: man sah ihre inneren Organe durch die transparente Haut. Dann fielen mir die schwarzen Würmer mit den weißen Borsten auf, die grünen gallertartigen Schnecken mit ihren urtümlichen Fortsätzen, die drei Zentimeter langen bunten Fische mit den Kugelbäuchen, und schließlich die Krabben, anderthalb bis zwei Zentimeter im Durchmesser, von bräunlicher Farbe. Ich probierte sie alle, die Algen eingeschlossen, nur die Würmer nicht. Nur die Krabben waren genießbar, die anderen waren grässlich bitter oder salzig. Wenn Krabben da waren, steckte ich sie eine nach der anderen in den Mund wie Bonbons, bis keine mehr übrig war. Ich konnte mich nicht beherrschen. Und es dauerte immer lange, bis sich eine neue Krabbenpopulation angesiedelt hatte.
    Auch das Rettungsboot wurde besiedelt, und zwar in Form von kleinen Entenmuscheln. Ich saugte ihnen die Flüssigkeit aus. Das Fleisch war ein guter Angelköder.
    Ich freundete mich mit diesen ozeanischen Reisegefährten an, auch wenn das Floß durch sie ein wenig tiefer im Wasser lag. Sie sorgten für Zerstreuung, genau wie Richard Parker. Ich verbrachte viele Stunden damit, dass ich einfach nur auf der Seite lag, eine Schwimmweste ein kleines Stück beiseite gedrückt wie der Vorhang an einem Fenster, damit ich ungehindert hinuntersehen konnte. Was ich sah, war eine auf dem Kopf stehende Stadt, klein, still und friedlich, deren Bewohner ihren Geschäften mit der heiteren Gelassenheit von Engeln nachgingen. Es war eine willkommene Entspannung für meine zerrütteten Nerven.

Kapitel 68
    Mein Schlafrhythmus veränderte sich. Ich ruhte zwar viel, aber schlafen konnte ich selten länger als eine Stunde am Stück, nicht einmal nachts. Es war nicht das unablässige Auf und Ab der See, das mich daran hinderte, und auch nicht der Wind; daran gewöhnt man sich genauso wie an eine durchgelegene Matratze. Immer wieder schreckte ich vor Angst und Beklemmung auf. Es war bemerkenswert, mit wie wenig Schlaf ich auskam.
    Das unterschied mich von Richard Parker. Er entwickelte sich zum Meisterschläfer. Die meiste Zeit hielt er unter der Plane seine Nickerchen. Aber an Tagen mit ruhiger See, wenn die Sonne nicht zu sehr stach, oder in ruhigen Nächten kam er hervor. Ein Lieblingsplatz war die Heckbank, wo er auf der Seite lag, sodass der Bauch über die Kante hing, Vorderund Hinterbeine auf den Seitenbänken ausgestreckt. Es war eine Menge Tiger für eine so kleine Bank, aber er machte den Rücken sehr rund, und dann passte er genau hinein. Wenn er wirklich schlief, legte er den Kopf auf die Vorderpranken; in weniger schläfriger Stimmung, wenn er schon einmal die Augen aufschlug und sich umsah, drehte er den Kopf und legte das Kinn auf den Bootsrand.
    In einer zweiten Lieblingsstellung drehte er mir den Rücken zu; mit dem hinteren Teil des Körpers lag er auf dem Bootsboden, mit dem vorderen auf der Bank, das Gesicht im Heck vergraben, die Pranken neben dem Kopf - er sah aus, als spielte er Verstecken, als hielte er sich gerade die Augen zu und zähle. In dieser Position blieb er reglos liegen, und nur ein gelegentliches Zucken der Ohren verriet, dass er nicht unbedingt schlief.

Kapitel 69
    Ein paar Mal war ich nachts überzeugt, dass in der Ferne ein Licht zu sehen war. Jedes Mal gab ich Signale. Als ich die Leuchtraketen verschossen hatte, brauchte ich die Signalfackeln auf. Waren es Schiffe, die mich nicht bemerkten? Das Licht von auf- oder untergehenden Sternen, das auf der Wasseroberfläche tanzte? Wellenkämme, die Mondlicht und verzweifelte Hoffnung zum Trugbild machten? Eine Antwort bekam ich jedenfalls nie. Jeder Versuch vergebens. Jedes Mal das bittere Gefühl, dass

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