Schilf
Kinderaugen und dem hellen Haar.
»Wann kommt Oskar denn?«, nörgelt Liam.
Während die Eltern sich anblicken, verteilt er seine Ungeduld in Ornamenten aus Zwiebelstücken und Knoblauchzehen über den Küchentisch. Ungezogenheiten, die Kreativität verraten, lässt Maike ihm durchgehen.
2
E s ist doch eigenartig, denkt Oskar, dass alle Menschen aus den identischen Bestandteilen zusammengesetzt sind. Dass jene Nebenniere, die ihm einen leichten Adrenalinrausch durch die Adern schickt, auch im vegetativen Nervensystem der zierlichen Asiatin zu finden ist, die, mit dem Gesicht von Yoko Ono maskiert, Kaffee und belegte Brötchen an die Fahrgäste verteilt. Dass ihre Nägel, Haare, Zähne aus demselben Material sind wie die Nägel, Haare, Zähne sämtlicher Mitreisender. Dass ihre Finger beim Ausschenken des Kaffees von den gleichen Sehnen bewegt werden wie seine, die im Portemonnaie nach Kleingeld suchen. Dass selbst die Handfläche, in die er, jede Berührung vermeidend, ein paar Münzen fallen lässt, ein ähnliches Muster aufweist wie seine eigene.
Beim Überreichen des Bechers sieht ihn die Asiatin zu lange an. Der Zug fährt über eine Weiche; fast wäre ihm der Kaffee auf die Hose geschwappt. Oskar nimmt den Becher entgegen und schaut zu Boden, um dem strahlenden Lächeln auszuweichen, das ihm die Asiatin zum Abschied schenken wird. Wenn es nur die Ähnlichkeit der Handflächen wäre, die ihn mit ihr verbindet. Wenn sie wenigstens nur Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff miteinander teilen würden. Aber die Gemeinsamkeiten gehen tiefer, bis hinab zu den Protonen, Neutronen und Elektronen, aus denen er und die Asiatin aufgebaut sind und aus denen auch der Tisch besteht, auf den er seine Ellenbogen stützt, sowie der Kaffeebecher, der ihm die Finger wärmt. Dieser Umstand macht Oskar zu einem beliebigen Ausschnitt der Materie, aus der die Welt geformt ist, alles enthaltend, was existiert, weil man aus ihr nicht entkommen kann. Er weiß, dass die Grenzen seiner Person im großen Teilchenwirbel verschwimmen. Er kann spüren, wie er sich buchstäblich unter andere Menschen mischt. In fast allen Fällen ist ihm dieses Gefühl unangenehm. Es gibt eine Ausnahme. Zu der ist er gerade unterwegs.
Wenn Sebastian versuchen wollte, seinen Freund Oskar zu beschreiben, würde er sagen, dass Oskar aussieht wie jemand, der alle Fragen beantworten kann. Ob der Stringtheorie eines Tages die Vereinigung der physikalischen Grundkräfte gelingen wird. Ob man ein Frackhemd zum Smoking tragen kann. Wie spät es ist, und zwar in Dubai. Egal, ob er zuhört oder selbst spricht, seine Granitaugen ruhen bewegungslos auf dem Gegenüber. Oskar ist einer, in dessen Adern Quecksilber fließt. Einer, unter dessen Füßen sich stets ein Feldherrenhügel befindet. Einer, für den es keine albernen Kosenamen gibt. In seiner Gegenwart setzen sich Frauen auf ihre Hände, um nicht versehentlich nach ihm zu greifen. Als er zwanzig war, wurde er auf dreißig geschätzt. Seit er die dreißig überschritten hat, nennt man ihn alterslos. Er ist hochgewachsen und schlank, mit glatter Stirn und schmalen Augenbrauen, die sich ständig zu fragenden Bögen heben wollen. Auf den leicht eingesunkenen Wangen liegt trotz sorgfältiger Rasur ein dunkler Bartschatten. Auch wenn er, wie heute, zur schwarzen Hose einen schlichten Pullover trägt, wirkt seine Kleidung ausgesucht. An seinem Körper wagt der Stoff nur an den richtigen Stellen Falten zu werfen. Meist drückt seine Haltung eine Mischung von äußerer Gelassenheit und innerer Anspannung aus, die andere Menschen dazu veranlasst, ihm frech ins Gesicht zu sehen. Hinter seinem Rücken suchen sie tuschelnd nach seinem Namen, weil sie ihn für einen Schauspieler halten. Tatsächlich ist Oskar in bestimmten Kreisen berühmt, allerdings nicht für Schauspielerei, sondern für seine Theorien zum Wesen der Zeit.
Draußen gleitet der Sommer als grünblaues Band vorbei. Eine Bundesstraße folgt den Gleisen. Wie festgeklebt bleiben die Autos hinter dem Zug zurück; Licht liegt in flachen Seen auf dem Asphalt. Gerade hat Oskar eine Sonnenbrille hervorgeholt, als ein junger Mann fragt, ob er sich zu ihm setzen dürfe. Oskar wendet sich ab und verbirgt die Augen hinter den dunklen Gläsern. Der junge Mann geht weiter. Auf dem Klapptisch steht der Kaffee in einer braunen Pfütze.
Was Oskar das Leben oft unerträglich macht, ist sein Empfinden für Stil. Viele Menschen können ihre Artgenossen nicht leiden, aber
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