Schleichendes Gift
Liste mit kritischen inneren Verletzungen, die nie wieder ganz ausheilen werden, und Tony zusammengeschlagen. Ich würde lieber ein paar mordlustige Spinner loswerden, um so etwas zu vermeiden.« Dieser Gefühlsausbruch wurde durch Chris’ starken Cockney-Akzent noch verstärkt.
»Es gibt hier kein Entweder-oder, das wissen Sie doch, Chris«, erinnerte sie Carol. Obwohl ihre eigene spontane Reaktion ähnlich war wie die ihres Sergeants, wusste Carol, dass hier mehr die Emotionen sprachen als der gesunde Menschenverstand. Aber heutzutage sagten nur Leichtsinnige und Unbedachte ihre Meinung so offen am Arbeitsplatz. Carol mochte ihre Außenseiter. Sie wollte keinen dadurch verlieren, dass falsche Ohren es mitbekamen, wenn sie sich Luft machten. Deshalb bemühte sie sich, ihre schlimmsten Ausraster zu mäßigen. »Wie wurde Tony da hineingezogen?«, erkundigte sie sich. »War es einer seiner Patienten?«
Chris zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Anscheinend war er aber der Held der Stunde. Hat den übergeschnappten Kerl abgelenkt, damit zwei Pfleger den verwundeten Helfer in sichere Entfernung ziehen konnten.«
Aber nicht weit genug, um sich selbst zu retten . »Warum hat mich niemand benachrichtigt? Wer hatte dieses Wochenende Dienst? Sam, oder?«
Chris schüttelte den Kopf. »Sam sollte Dienst haben, aber er hat mit Paula getauscht.«
Carol sprang auf und öffnete die Tür. Als sie sich im Raum umschaute, sah sie Detective Constable Paula McIntyre, die gerade ihren Mantel aufhängte. »Paula? Bitte kommen Sie mal einen Moment rein«, rief sie. Als die junge Beamtin durch den Raum schritt, spürte Carol das wohlbekannte Schuldgefühl in sich aufkommen.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie Paula in eine gefährliche Situation gebracht, und diese war dabei zu Schaden gekommen. Zwar war es eine offiziell abgesegnete Aktion gewesen, aber Carol war diejenige gewesen, die versprochen hatte, Paula zu schützen, und sie hatte versagt. Der doppelt schwere Schlag dieser misslungenen Aktion und des Verlusts der Kollegin, mit der sie am engsten zusammengearbeitet hatte, brachte Paula fast dazu, ihre Karriere bei der Polizei aufzugeben. Carol kannte diese Situation. Auch sie hatte das erlebt und unheimlicherweise aus ganz ähnlichen Gründen. Sie hatte Paula jede nur mögliche Unterstützung angeboten, aber schließlich war es Tony gewesen, der sie vom Abgrund wieder zurückholte. Carol hatte keine Ahnung, was zwischen ihnen geschehen war. Aber für Paula war es dadurch möglich geworden, ihren Beruf als Polizistin wiederaufzunehmen. Und dafür war Carol dankbar, selbst wenn das bedeutete, dass sie auf diese Weise ständig an ihr eigenes Versagen erinnert wurde.
Carol trat zur Seite, um Paula Platz zu machen, und ging dann wieder zu ihrem Stuhl zurück. Paula lehnte sich an die Glaswand, die Arme verschränkt, als könne sie so verbergen, wie viel sie abgenommen hatte. Ihr dunkelblondes Haar sah aus, als hätte sie vergessen, sich nach dem Trockenrubbeln zu kämmen, und ihre dunkelgraue Hose und der Pullover hingen beide zu weit an ihr herunter. »Wie geht es Tony?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht, weil ich gerade erst von dem Angriff auf ihn gehört habe«, entgegnete Carol vorsichtig, um es nicht anklagend klingen zu lassen.
Paula war niedergeschmettert. »So ein Mist«, stöhnte sie. »Ich kam gar nicht drauf, dass Sie es nicht wissen könnten.« Sie schüttelte frustriert den Kopf. »Man hat mich nicht mal von dort angerufen. Ich hab es erst gehört, als ich am Samstagvormittag die Fernsehnachrichten angeschaltet habe. Ich habe einfach angenommen, dass irgendjemand Sie anrufen wird …« Sie verstummte bestürzt.
»Niemand hat mich angerufen. Ich war zu einem Familienwochenende mit meinem Bruder und meinen Eltern in den Dales. Deshalb hatten wir weder den Fernseher noch ein Radio eingeschaltet. Wissen Sie, in welcher Klinik er liegt?«
»Im Bradfield Cross«, antwortete Paula. »Am Samstag wurde sein Knie operiert. Ich hab nachgefragt. Man sagte mir, er hätte die Operation gut überstanden und sei ohne Beschwerden.«
Carol stand auf und packte ihre Tasche. »Gut. Wenn ihr mich braucht, bin ich dort. Ich nehme an, es ist über Nacht nichts Neues hereingekommen, um das wir uns kümmern müssten?«
Chris schüttelte den Kopf. »Nichts Neues.«
»Umso besser. Wir haben sowieso genügend andere Fälle.« Sie klopfte Paula im Vorbeigehen auf die Schulter. »Ich wäre von der gleichen Annahme ausgegangen«,
Weitere Kostenlose Bücher