Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Fehler begehen oder die Aufklärung sogar systematisch verhindern? Bei alldem wird seitens der Behörden, der Politik und der Medien immer noch gern von «Pannen» gesprochen. Suggeriert das Wort «Panne» nicht, dass es sich lediglich um eine Ungeschicklichkeit, einen Fauxpas, handelt? Die Bezeichnung «Panne» gibt für die vielen gravierenden Fehler die Deutung vor, dass gezieltes, planvolles oder zumindest grob fahrlässiges Handeln Einzelner oder sogar ganzer Behördenapparate nicht vorliege – eine geradezu zynische analytische Einengung der Geschehnisse.
Im Frühjahr 2013 wird das Gerichtsverfahren gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfershelfer des NSU beginnen. Seit dem Brand des Wohnmobils in Eisenach am 4. November 2011 kam vieles ans Licht, aus dem Journalisten und Ermittler ihre Schlüsse gezogen haben. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse sprechen sehr dafür, dass der NSU hinter der Mordserie steckt, dass Beate Zschäpe eine wesentliche Rolle gespielt hat. Doch nur ein staatliches Gericht hat die Legitimation, bindend festzustellen, was geschah und wer für die Gräueltaten verantwortlich ist.
Es wird einer der größten Strafprozesse in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland werden. Schon die der Hauptverhandlung zugrunde liegende Anklageschrift umfasst beachtliche vierhundertachtundachtzig Seiten. Die Bundesanwaltschaft benennt über sechshundert Zeugen sowie zweiundzwanzig Sachverständige; sie listet fast vierhundert Urkunden und dreihundertzwanzig Augenscheinobjekte auf; die Ermittlungsakten umfassen an die hundertdreißigtausend Seiten, die über dreizehnhundert Leitzordner füllen, welche hintereinandergestellt eine Länge von mehr als hundert Metern ergäben. An der Gerichtsverhandlung werden mehr als hundertfünfzig Verfahrensbeteiligte teilnehmen. Der gewöhnlich mit fünf Berufsrichtern besetzte Strafsenat wird durch Ergänzungsrichter aufgestockt werden – für den Fall, dass ein Richter während der Monate, wenn nicht Jahre dauernden Hauptverhandlung ausfallen sollte. Doch das sind nur die Daten und Fakten.
Nach den Nürnberger Prozessen und den großen Strafverfahren gegen die Mitglieder der RAF in den siebziger und achtziger Jahren wird der NSU-Prozess auch in seiner historischen, gesellschaftlichen und politischen Dimension einer der bedeutsamsten Prozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte sein. Denn über zehn Jahre verkannten die Ermittlungsbehörden, dass die Verbrechen des NSU nichts anderes waren als rechter Terror. Die Begründung lautete stets, dass kein Bekennerzeichen darauf hingewiesen hätte. Das ist verblüffend, denn das Prinzip der «Propaganda der Tat», das die Videos des NSU ausdrücklich erwähnen, kennt man bereits aus den Schriften von Anarchisten wie Michail Bakunin, auch der «führerlose Widerstand» wurde in der rechten Szene oft propagiert. Und zumindest die Bombenattentate des NSU hätten doch die Alarmglocken klingeln lassen müssen, schließlich hatte es ähnlichen rechten Terror bereits zuvor, beispielsweise beim Oktoberfestattentat 1980, gegeben. Seit längerem schon radikalisieren sich Teile der Neonaziszene, was den Behörden nicht ganz verborgen geblieben war. Wie konnten Ermittler, Politiker und Medien bloß so lange fälschlich behaupten, Terrorismus und schriftliche Selbstbekenntnisse seien untrennbar verbunden? Und warum wird von Politik und Sicherheitsbehörden noch immer durch die ständige Wiederholung des Begriffs «Zelle» suggeriert, dass es sich beim NSU nur um eine kleine Gruppe handle?
Die Taten des NSU stellen einen ebenso massiven Angriff auf die bundesrepublikanische Ordnung dar wie die der Rote-Armee-Fraktion, und die Parallelen sind augenfällig: Beide sind terroristische Vereinigungen, beide haben Sprengstoffanschläge verübt, Morde begangen und zur Geldbeschaffung Banken überfallen. Sowohl RAF als auch NSU verfügten bzw. verfügen über ein breites Umfeld von Unterstützern. Die Verbrechen beider sind politisch motiviert und sollten die bestehende staatliche Ordnung stürzen. Nebenbei, auch die RAF hat nicht nach jeder Tat ein Bekennerschreiben veröffentlicht. Angesichts all dieser Ähnlichkeiten, das darf man nüchtern feststellen, fallen die Reaktionen in Politik und Gesellschaft auf den NSU verblüffend schwach aus: Während die RAF-Gewalt von der Bevölkerung wie vom Staat als Kriegserklärung verstanden und mit zahlreichen gesetzlichen und administrativen Neuregelungen bekämpft wurde, während sich
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