Marlene Suson 3
echt wie möglich zu gestalten, hatte sie jeden nur greifbaren Bericht über Gentleman Jack gelesen und sich jede Ballade, in der er besungen wurde, genau eingeprägt. Dann hatte sie alles bis aufs I-Tüpfelchen kopiert: Kleidung, Maske, Hut und Hand- schuhe, alles in Schwarz. Selbst ihr Pferd ähnelte Black Ben, dem berühmten Roß des Straßenräubers.
Der tollkühne, wagemutige Gentleman Jack war ein moderner Robin Hood gewesen, der die Reichen beraubte, um den Armen zu helfen. Vor drei Jahren war er ganz plötzlich von der Bild- fläche verschwunden und nie wieder in Yorkshire aufgetaucht. Nun hatte Daniela seine Rolle übernommen.
Erst in diesem Augenblick bemerkte sie, daß die Kutsche nicht die war, auf die sie gewartet hatte. „Verdammt“, murmelte sie verärgert. „Das ist ja gar nicht Sir Waldo Fletcher.“
Sie hoffte, daß die Insassen der Kutsche Freunde ihres Bruders Basil und auf dem Weg nach Greenmont waren, um an seinem Ball teilzunehmen. Daniela verabscheute alle seine Freunde von Herzen und hatte nicht die geringsten Skrupel, sie zu berauben. Die Überzeugung, daß sie es verdienten, ein wenig geschröpft zu werden, beruhigte ihr Gewissen ungemein.
Wer immer ihr jüngstes Opfer auch sein mochte, seine Kut- sche war die schönste und eleganteste, die sie bisher angehalten hatte. Gezogen wurde sie von vier feurigen Rappen, deren ge- striegeltes Fell und silberbeschlagenes Zaumzeug im Mondlicht schimmerte. Das Wappen auf der Tür verriet, daß der Eigentümer nicht nur reich, sondern auch von Stand war.
Hinten an der Kutsche waren zwei schöne Reitpferde ange- bunden. Das eine war so schwarz wie ihr eigenes und das an- dere ein so blutvoller Fuchs, wie Daniela – eine ausgezeichnete Pferdekennerin – ihn noch nie gesehen hatte.
O ja, der Besitzer dieser Kutsche war zwar nicht der Mann, den sie erwartet hatte, aber ganz gewiß eine fette Beute. Sie dachte an all das Gute, das sie mit dem Geld tun konnte, um das sie ihn heute abend erleichtern würde.
Daniela zielte mit einer ihrer Pistolen auf den Kutscher. „Hoch mit den Händen!“ herrschte sie ihn an.
Bei ihren früheren Überfällen hatten die verängstigten Kut- scher ihrer Aufforderung kaum schnell genug Folge leisten können, doch dieser, ein untersetzter, stämmiger Mann in den Dreißigern, wirkte nicht im mindesten verängstigt. Ganz im Ge- genteil. Während er langsam und in aller Gemütsruhe die Arme
hob, glaubte sie im hellen Mondlicht zu sehen, daß ein leichtes Grinsen seine Mundwinkel umspielte.
Man hatte fast den Eindruck, als wäre er erfreut, sie zu sehen. Daniela fragte sich im stillen, ob er seinen Herrn wohl so sehr haßte, daß er ihm diesen Überfall gönnte.
Hier stimmt etwas nicht, schoß es ihr durch den Kopf. Da waren nämlich noch zwei Dinge, die irgendwie nicht ins Bild paßten. Daniela spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Erstens fuhr die Kutsche auffallend langsam, wenn man bedachte, wie hell und klar die Nacht war. Zweitens wurde sie nicht von Vor- reitern begleitet. Der Kutscher saß ganz allein auf dem Bock und hatte nicht einmal einen bewaffneten Pferdeknecht neben sich.
Daniela kämpfte die aufkeimende Furcht nieder. Sie hielt eine der Pistolen weiter auf den Kutscher gerichtet, während sie mit der anderen kräftig auf das Dach der Kutsche klopfte. „Aufmachen!“
Die Tür schwang auf, und Daniela erblickte den einzigen In- sassen. Es war ein Mann von imponierender Größe und elegan- tem Äußeren. Er saß lässig zurückgelehnt in den Polstern, die Hände in den Falten seines dunkelblauen Mantels.
Völlig verdutzt starrte Daniela den Mann an. Nicht, daß sie ihn gekannt hätte. Sie wußte genau, daß sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. An dieses markante Gesicht mit der breiten Stirn und der harten Kinnlinie hätte sie sich erinnert. Mit einem trä- gen Blick, in dem auch nicht die geringste Spur von Angst lag, sah er sie herausfordernd an.
Besonders beunruhigend war das versteckte, mutwillige Grin- sen, das um seine Lippen zuckte.
Immerhin zielte sie mit einer Pistole genau auf sein Herz! Wo nahm er nur die Kaltschnäuzigkeit her, sie so anzugrinsen?
Mit tiefer, grollender Stimme fuhr sie ihn an: „Hände hoch, oder Sie kriegen mein Schießeisen zu spüren!“ Sie hatte ir- gendwo gelesen, daß dies die bevorzugte Redewendung Gentle- man Jacks gewesen war, wenn er sich auf seine Raubzüge begab.
Zu ihrem höchsten Verdruß hob der Mann nicht etwa die Arme, sondern sagte
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