Schmetterlingsjagd (German Edition)
sehe, hallt seine Stimme in meinem Kopf, sie schreit: Lo, ich brauche dich. Lo, verlass mich nicht.
Warum hast du mich verlassen?
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Kapitel 2
«Rachel Stern und Mikey K haben es richtig getrieben auf Sarahs Party.»
«Auf keinen Fall . Das hat sich Zach doch ausgedacht. Du willst doch nicht im Ernst Zach glauben?»
«Er ist vielleicht ein Idiot, aber man kann ihm absolut vertrauen. Die hatten richtig echten Sex. Rachel hat mir die Einzelheiten erzählt.»
«Echt? Was denn?»
Ich stütze den Kopf in die Hände und stöhne. Normalerweise hätte ich die Ohren gespitzt und dem geflüsterten Klatsch mit Interesse gelauscht – ein Fenster zur Welt der Freundschaften und Schwärmereien, in der ich mich überhaupt nicht auskenne –, aber heute ist es schmerzhaft, geradezu unerträglich. Der ganze Schultag heute war schon so. Jedes Schurren der Metallstühle auf dem Linoleumfußboden erinnert mich an die Schüsse letzte Nacht. Ich bin voller Angst – leer, mit zum Zerreißen gespannten Nerven.
Nur um ein wenig Erleichterung zu spüren, klaue ich den Stift, den wir für die Vorbereitungen auf die Vergleichstests bekommen haben. Während der ganzen Unterrichtsstunde halte ich ihn in meiner guten Hand und dann auch noch den Rest des Tages, immer in der Hoffnung auf innere Ruhe. Es hilft nicht viel.
Alles kommt mir noch unwirklicher vor als sonst, in jeder Schule (außer der Carver High), in der ich je war (zwölf an der Zahl), in jeder Stadt, in der ich je gelebt habe (elf). In jeder einzelnen Unterrichtsstunde versucht man, uns auf Tests vorzubereiten, die einzig und allein zeigen, wie gut man sich nutz- und sinnlose Fakten merken kann. Und jeden Tag wird man wieder daran erinnert, wie klein man ist, wie bedeutungslos, wie unwichtig man für die meisten Leute ist. In jeder neuen Schule erinnert man mich wieder daran: Niemand will die Neue kennenlernen, ganz besonders nicht wenn die Neue eine Verrückte ist, die jede einzelne Sekunde nur damit beschäftigt ist, vor ihren Lehrern und Mitschülern nicht wie eine komplette Idiotin dazustehen. Jedes Mal, wenn ich meine Meldung zurückziehe, jedes verhaltene tip tip tip, Banane ist ein weiterer verzweifelter Versuch, als normal durchzugehen. Leider klappt es nie.
Nach der letzten Stunde mache ich mich auf den Weg zu meinem Spind – Spind Nummer 99, eine Nummer, die einfach zu perfekt ist, trotz der Tatsache, dass er eigentlich kaputt ist und nicht richtig schließt – und stopfe meine Geschichts- und Mathebücher hinein, direkt auf einen Haufen alter Pullis und Papiere. Dann fällt mir plötzlich ein Stift ins Auge, der innen an der Spindtür klebt. Darunter ein Zettel, auf dem steht:
… damit du nächstes Mal nicht wieder einen klauen musst – Jeremy. P. S. Brauchst du jemanden zum Lernen?
Seine Handynummer steht in schwarzer Tinte darunter.
Der Zettel muss von Jeremy Theroux sein, dem Jungen aus meiner Vergleichstest-Vorbereitungsklasse. Er trägt fast jeden Tag dasselbe ausgeblichene grüne Neil-Young-T-Shirt und dazu enge graue Jeans. Ich weiß nicht viel über ihn, außer dass er im Leichtathletik-Team ist, aber mehr mit den Typen aus der Band herumhängt als mit den Sportskanonen. Seine Haare sind von einem irren Steppenbrand-Rot.
Ich schaue mich im Korridor um. Alle sind damit beschäftigt, ihre Taschen aus- und einzupacken und Pläne zu schmieden. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er mitbekommen hat, wie ich den Stift eingesteckt habe. Ich dachte, dass sowieso niemand darauf achtet, was ich tue, abgesehen von meinen irre peinlichen Auftritten, wie zum Beispiel, als ich neulich nach dem Sport mein T-Shirt verkehrt herum angezogen hatte. Den Rest des Tages lief ich, ohne es zu merken, mit Deo-Streifen auf den Brüsten herum.
Ich lasse den Stift an der Schranktür hängen, löse aber den Zettel vorsichtig ab, falte ihn sechs Mal, bis er sehr klein ist, und stecke ihn dann in die Hosentasche. Auf dem Weg zum Ausgang taste ich alle paar Sekunden danach. Ich gehe durch die krankenhausgrünen Korridore und weiche ein paar Jungs aus der Schul-Fußballmannschaft aus. Kevin DiGiulio zieht gerade vor seinem Schließfach sein Sweatshirt aus. Im Vorbeigehen werfe ich einen kurzen Blick auf seinen nackten Oberkörper. Er hat einen kleinen dunklen haarigen Fleck auf der Brust, und eine dünne Linie zieht sich unterhalb seines Bauchnabels bis in seine Jeans hinein.
Eine Sekunde lang frage ich mich, ob Jeremy wohl Haare auf der Brust hat,
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