Schön tot: Ein Wien-Krimi (German Edition)
1. Akt
1
Sonnenaufgang in Wien-Margareten. Eine Stadt, die niemals schläft, mag eine treffende Beschreibung von New York sein, gilt aber sicher nicht für Wien.
Es war kurz vor sechs Uhr früh, als ich durch die menschenleeren Gassen des fünften Bezirks wankte. Auf der Schönbrunner Straße war kaum Verkehr. Geschäfte und Lokale hatten geschlossen. Vor der Kirche, in der einst Franz Schubert aufgebahrt gewesen war, schlief ein Sandler seinen Rausch aus.
Als ich die Pilgramgasse hinaufspazierte, tauchte die Statue der Heiligen Margarete im Morgengrauen auf. Mitleidig schaute die Schöne auf den Drachen herab.
Ich hatte für Märtyrerinnen prinzipiell viel übrig. Grund für Margaretes Martyrium schien jedoch weniger ihr Glaube als ihre Schönheit gewesen zu sein: Die unschuldige Schäferin war vor 1700 Jahren in Kleinasien von einem Stadtpräfekten begehrt worden. Als sie ihn zurückwies, ließ er sie im Gefängnis mit eisernen Kämmen und Fackeln foltern. Doch ihre Wunden heilten immer wieder. Daraufhin verwandelte er sich in einen riesigen Drachen und versuchte, sie zu verschlingen. Das Kreuzzeichen, das sie schlug, rettete sie. Auf dem Weg zur Hinrichtung betete die Arme für ihren Verfolger, wurde aber dennoch enthauptet.
Plötzlich bildete ich mir ein, dass selbst die Margariten, die als Markenzeichen des Viertels über den Fahrbahnen hingen, ihre Köpfchen hängen ließen. Ich hatte eindeutig zu viel getrunken.
Der Himmel über Wien verfärbte sich orangerot, brachte die Dächer der Stadt zum Glühen. Schüchterne Strahlen drangen durch die Häuserzeilen auf die Straße.
Nach der durchwachten Nacht fielen mir beim Gehen die Augen zu. Trotz Frühlingsbeginn waren die Temperaturen auf fünf Grad gesunken. Die Kälte fuhr mir in alle Knochen. Meine Lederjacke war nicht gefüttert und meine Jeans waren zerrissen.
Den Primeln und Narzissen auf den begrünten Verkehrsinseln schien der erneute Kälteeinbruch weniger auszumachen als mir. Dirigiert von unsichtbarer Hand, begrüßte lautes Vogelgeschrei den kühlen Morgen. Ein Schwarm großer schwarzer Raben flog über das sogenannte Schlossquadrat beim Margaretenplatz. Sie bekränzten es mit einer Art Heiligenschein. Vorboten eines Unglücks?
Mein Aberglaube hielt sich in Grenzen.
Kaum waren die Vögel außer Sichtweite, herrschte wieder unheimliche Stille. Dann ließ mich ein lauter Schrei zusammenzucken.
Mir fiel ein, dass in der Nähe eine alte Frau wohnte, die öfters mitten in der Nacht aufschrie. Wahrscheinlich litt sie unter Albträumen.
Seit ich vor ein paar Wochen einen Job im Café Cuadro, einem der Lokale im Schlossquadrat, angenommen hatte, ging ich kaum einmal vor den frühen Morgenstunden zu Bett, obwohl wir meistens pünktlich um Mitternacht Schluss machten. Doch ich genehmigte mir nach der Arbeit gern den einen oder anderen Absacker im nahe gelegenen Motto.
Dieses Lokal in der Schönbrunner Straße war ein Ort, an dem man sich rasch näherkam. Es dominierte dunkles Lila, die übermalten Babypuppen an der Decke und die barocken Stühle passten aber meiner Meinung nach eher als Kulisse in einen Fantasy-Film als in eine coole Bar. Die Musik war jedoch wirklich geil. Außerdem war das Motto ein Paradies für voyeuristisch veranlagte Menschen wie mich. Barflies, Künstler, Sternchen und echte Stars – zu später Stunde trafen sich dort Nachtschwärmer jeder Couleur. Alle hatten nur eines gemeinsam: Sie verstanden es, sich zu inszenieren.
Ausnahmsweise hatte ich heute Nacht mal einen Mann abgeschleppt. Mein One-Night-Stand war die schlaflose Nacht leider nicht wert gewesen. In seinem Atelier im Hinterhof eines typischen Wiener Vorstadthäuschens war es ziemlich ungemütlich gewesen. Wir hatten es halb angezogen und im Stehen getan. Eine schnelle Nummer mit kalten Lippen, kalten Händen und kalten Herzen. Es würde kein zweites Mal mehr geben. Dass ich nicht beziehungsfähig bin, hatte mir ein Psychotherapeut schon vor Jahren schwarz auf weiß bestätigt. Und alles, was sich wiederholte, roch gefährlich nach sich anbahnender Beziehung, nach Besitzansprüchen, Eifersucht und kleinkarierten Machtspielchen.
Nach dem Tod meiner Eltern, ich war damals Anfang zwanzig, hatte ich in Houston, Texas, ein Kriseninterventionszentrum aufgesucht. Mein Psychotherapeut dort behauptete, ich würde mich schlicht und einfach weigern, erwachsen zu werden, wollte an dem Punkt in meiner Entwicklung Halt machen, an dem mir meine Eltern grausam entrissen worden
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