Schule der Liebe
doch in Wirklichkeit hatte er sie zutiefst erschüttert. Sie war entsetzt, dass jener Schurke versucht hatte, Lucy mitzunehmen, und fassungslos, dass Lucy ihm bereitwillig gefolgt war. Außerdem hatte die Begegnung mit dem Fremden, der ihnen zur Hilfe geeilt war, sie in höchste Erregung versetzt. Er war groß und dunkelhaarig, wie man sich einen richtigen Piraten vorstellte, hatte jedoch einen tadellos geschnittenen Rock und ein feines Hemd getragen. Genau wie sein Spazierstock wirkte er äußerlich elegant und vornehm, doch in seinem Innern verbarg sich die geballte Kraft eines Raubtieres. Morgana fand ihn atemberaubend.
Doch es war nicht ihre Art, ihre Zeit mit Tagträumen zu vergeuden, besonders nicht mit Träumen über einen Mann, den sie möglicherweise niemals wiedersehen würde. Allerdings - vielleicht würde er ja heute Abend in die Oper gehen? Schließlich hatte ihre Cousine ihr versichert, dass alle Welt dort sein würde ...
Morgana riss sich zusammen und beschloss, das Thema zu wechseln. „Weißt du, weshalb Lucy versucht hat, mit diesem Mann davonzulaufen?"
Amy schüttelte den Kopf. „Sie ist in letzter Zeit launisch, aber sie hat sich mir nie anvertraut."
Amy und Lucy Jenkins waren Morgana von der Haushälterin ihrer Tante empfohlen worden, die mit den Mädchen verwandt war. Amy, mit ihren zwanzig Jahren eine sehr junge, doch begabte Zofe, hatte sich als eine wahre Perle erwiesen. Bei der zwei Jahre jüngeren Lucy lag der Fall anders. Morgana hatte mehrmals beobachtet, wie sie mit dem Staubtuch in der Hand in einem Zimmer stand und mit einem gequälten Ausdruck auf ihrem Gesicht vor sich hin starrte.
Morgana warf Amy einen warmen Blick zu, der Zuversicht ausstrahlte, obwohl sie die eigentlich nicht empfand. „Wir werden herausfinden, was Lucy bedrückt, und dann werden wir ihr Problem lösen."
Amy antwortete mit einem dankbaren, vertrauensvollen Lächeln.
Morgana war zwar nur knapp drei Jahre älter als ihre Zofe, doch sie hatte an der Seite ihres Vaters, dessen diplomatische Missionen sie auf die Iberische Halbinsel und in letzter Zeit auch nach Paris geführt hatten, viel von der Welt gesehen. Dennoch waren die körperlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau für sie in vieler Hinsicht immer noch ein Geheimnis. Konnten Bedürfnisse dieser Art Lucy dazu verlockt haben, jenem schändlichen Kerl zu folgen? Er hätte zweifellos ein käufliches Mädchen aus ihr gemacht. Die lebhafte Erinnerung an ein solches Mädchen, dem sie einmal in Portugal begegnet war, an die Hoffnungslosigkeit in dessen Blick, plagte Morgana bis heute.
Hunger und Verzweiflung konnten eine Frau vielleicht in diese Lage treiben, doch Lucy hatte immer genug zu essen und ein Dach über dem Kopf, und Morgana war gut zu ihren Dienstboten. Wieso war Lucy nur davongelaufen?
Amy half Morgana in ihren Morgenmantel und band ihr das Haar im Nacken zusammen. Nun sah sie nicht mehr wie eine Amazone aus, die sich an einem Kampf beteiligt hatte, sondern eher wie die Tochter eines Barons, die sie ja war.
Da klopfte es an die Tür. Amy öffnete, nahm dem Diener das Tablett ab und trug es zu einem Tisch hinüber.
Morgana zog sich einen Stuhl heran. „Geh du nun selbst zu Abend essen, Amy. Und versuche, auch Lucy zu überreden, dass sie etwas zu sich nimmt."
,,Ja, Miss." Amy knickste. „Ich werde sofort wieder nach oben kommen, um Sie für die Oper anzukleiden."
Nach ein paar Bissen schob Morgana das Tablett beiseite. Seit dem Vorfall im Park musste sie ständig an ihren Retter denken. Sie meinte, sich an jede seiner Bewegungen, jede Regung seiner Miene erinnern zu können. Er besaß ein männlich-attraktives Antlitz, durchdringende dunkle Augen, eine römische Nase und Lippen, die sie nur als sinnlich bezeichnen konnte.
Sie erhob sich ein wenig zu hastig von ihrem Stuhl, sodass sie gegen den Tisch stieß. Sie fing ihr Weinglas gerade noch rechtzeitig auf, um nichts zu verschütten, dann verließ sie ihr Zimmer und ging über den Flur zum Salon ihrer Großmutter.
„Hallo, Großmama", grüßte sie, als sie den Raum betrat.
Lady Hart, eine kleine Frau, die nur noch aus papierdünner Haut und zerbrechlichen Knochen zu bestehen schien, saß lächelnd in ihrem Ohrensessel. Ihre Augen leuchteten auf, als sie Morgana erblickte. „Ach, hallo, meine Liebe!"
Morgana ließ sich nicht täuschen. Die Dowager Lady Hart begrüßte jeden, der ihr Zimmer betrat, auf dieselbe Weise,
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