Schwarze Stunde
ins Haus bittet. Ich spüre, wie müde ich bin, als wir unsere Koffer in die verschiedenen Flure tragen und unsere Zimmer beziehen dürfen, Alena und ich teilen uns ein Vierbettzimmer mit Carla und Büsra. Während wir unsere Schränke einräumen, behalten wir unsere Jacken an. Alena prüft den schmalen Heizkörper an der Wand.
»Kalt«, stellt sie fest und versucht ihn aufzudrehen; der Regler bewegt sich nur wenig nach links. Carla ist ans Fenster getreten, das einen kleinen Spalt offen steht; es klemmt, als sie es nach oben zu schieben versucht, aber schließlich gelingt es ihr doch. Alena tritt neben sie und sieht zu, wie der Regen unablässig gegen die einfachen Scheiben trommelt.
»Hier bleibe ich nicht«, stößt sie hervor. »Hört ihr, wie der Wind um das Haus pfeift?«
»Ich sehne mich auch nach meinem warmen Zimmer und unserer Badewanne«, pflichtet Carla ihr bei. Büsra ist blass geworden und sitzt stumm auf ihrem Bett.
»Und die beiden Alten da unten, die sind so gruselig!«, fügt Alena hinzu. Sie schüttelt sich.
»Sie sehen aus wie aus einem alten englischen Krimi, das stimmt«, sage ich. »Aber ich finde das herrlich. Es ist alles so … so britisch. Ein bisschen unheimlich ist es schon, aber genießen wir es doch! Wegen der Heizung sagen wir nachher beim Abendessen gleich Bescheid, der Herbergsvater kann sie bestimmt einstellen. Wir haben November, da muss er heizen!«
Alena sieht mich irritiert an. »Dir gefällt es hier?«, fragt sie. »Du bist nicht normal. Sieh dich doch mal um, wie primitiv hier alles ist! Nicht mal richtig gewischt haben die!« Sie fährt mit dem Finger über den Tisch, ein wenig Staub bleibt daran hängen. »Ekelhaft.«
»Aber es ist England!«, rufe ich und lasse mich rücklings auf das Bett fallen, das ich mir ausgesucht habe; es ist so durchgelegen, dass ich einsinke. »Es ist England, Leute! Mein Lieblingsland!«
»Dein Lieblingsland«, wiederholt Alena. »Kalt, verregnet, unheimlich und dreckig. Wenn ich nicht wüsste, warum du das so toll findest, würde ich dich für verrückt erklären.«
Ich will etwas erwidern, doch im selben Augenblick schrillt eine Glocke, die uns zum Abendessen ruft. Manuel klopft an, um mich abzuholen, er greift nach meiner Hand und lässt sie auch nicht los, als wir den Speisesaal betreten. Patrick und Oleg winken uns an ihren Tisch, auch Alena, Carla und Büsra setzen sich zu uns. Ich blicke mich verstohlen nach Corvin um und entdecke ihn an einem Tisch neben Frau Bollmann. Fiona und Yuki sitzen bereits dort, offenbar haben sie sich gleich für den Tischdienst gemeldet. Als Corvin aufsteht, um nach dem Wasserkrug zu greifen, sehe ich erst, dass er sich umgezogen hat. Er trägt eine blaugraue Sweatjacke von Black Hour , das Motiv ist ein anderes als das auf unserem T-Shirt, es muss von einem früheren Konzert stammen, ich erkenne es auch daran, dass der Sweater bereits ziemlich verwaschen ist. Aber er steht ihm so gut, Corvin sieht darin aus wie ein Jugendlicher, die Haare in seinem Nacken berühren die Kapuze und das Blaugrau passt so gut zu seinen hellbraunen Augen. Ich kann nicht anders, als in mich hinein zu lächeln, es ist ein Zeichen für mich: Du, ich und England, will er mir sagen, das gehört uns, das verbindet uns miteinander für alle Zeit, das kann uns niemand nehmen. Zum Glück hat keiner von uns je das Shirt vom Open Air-Konzert in der Schule getragen.
Der Herbergsvater in seiner fleckigen Schürze teilt das Essen aus, es gibt eine mit Fleisch gefüllte Pastete und Salat. Alena schiebt nach den ersten drei Bissen ihren Teller fort, die meisten anderen Mädchen tun es ihr gleich, während die Jungs alles ohne Begeisterung in sich hineinschlingen. Ich arbeite mich Gabel für Gabel durch meine Pastete durch, so schlecht schmeckt sie nicht, wenn man sich nicht auch noch die scheußliche Minzsauce aus den bereitliegenden Portionstütchen darüber gießt.
»Sag bloß, dir schmeckt dieser Fraß«, lacht Alena, als ich meinen Teller beinahe leer gegessen habe. »Etwa auch wieder nur, weil es ausgerechnet England ist?«
»Wieso ausgerechnet England?«, mischt sich Manuel ein und mustert mich, forscht in meinem Gesicht nach einer Antwort, lauert, überlegt. »Hat das wieder was mit Schwarze zu tun? Bist du noch nicht fertig mit ihm?«
»Manuel, bitte«, beschwöre ich ihn leise. »Mach dich nicht lächerlich.«
Ich sehe, wie es in seinem Kopf arbeitet. Einige sehen von den umstehenden Tischen zu uns her, Corvin hat
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