Die Tigerin
ERSTES KAPITEL
I ch hielt mit dem Austin Healey vor dem verschlossenen makellosen
Bronzetor, das sozusagen eine symbolische Schwelle zwischen Leben und Tod
darstellte. Wir stiegen aus, Sergeant Polnik drückte
ein paar Sekunden lang mit dem Daumen auf die Nachtglocke und schauderte dann
plötzlich.
»Bei
Friedhöfen läuft’s mir immer eiskalt den Rücken runter, Lieutenant«, sagte er
in kläglichem Ton. »Selbst wenn sie so mondän sind wie der hier.«
»Und
Sie wollen Polizeibeamter sein ?« sagte ich ehrlich
überrascht. »Wo Tote doch sozusagen zu Ihrem täglichen Brot gehören .«
Seine
Stirn legte sich in ein Netz von Falten. »Tote machen mir nichts aus«, brummte
er. »Und Leichenhäuser stören mich auch nicht, aber Friedhöfe«, er schauderte
wieder, »die sind mir zuwider, und ich hab’ immer das Gefühl, ich treff dabei mal auf so ’nen Burschen, durch den man
mittendurch sehen kann und der nicht dorthin gehört — Himmel !«
Für
den Bruchteil einer Sekunde war ich geneigt, Polnik recht zu geben: Der Bursche, der plötzlich auf der anderen Seite des Tores
Gestalt angenommen hatte, sah bestimmt so aus, als ob er nicht dorthin gehörte —
aber dann wurde mir klar, daß ich in Wirklichkeit gar nicht durch ihn
hindurchsehen konnte. Es war nur ein Streich, den uns die frühe Morgensonne
spielte, und mir wurde etwas wohler.
Der
Bursche war alt, hatte einen grauen Haarschopf und sah so verschrumpelt aus,
als ob das Blut, das früher durch seine Adern gelaufen sein mußte, seit langem
ausgetrocknet und zu Staub zerfallen wäre. Heftig schielend, betrachtete er uns
finster und sagte dann mit einem schrillen Diskant, der mich heftig bedauern
ließ, vor dem Weggehen nicht wenigstens eine Tasse Kaffee getrunken zu haben:
»Was wollen Sie ?« Sein Ton war gereizt.
»Ich
bin Lieutenant Wheeler vom Büro des Sheriffs«, verkündete ich laut und deutlich
und hoffte, damit mindestens so viel Eindruck gemacht zu haben, wie wenn J.
Edgar Hoover, der Chef der FBI, sich persönlich vorgestellt hätte. »Das hier
ist Sergeant Polnik . Vor einer Weile hat jemand angerufen
und gesagt, man habe eben eine Leiche gefunden. Hoffentlich hat sich da nicht
jemand einen hervorragenden Witz geleistet ?«
»Gehen
Sie am besten ins Büro«, sagte der Alte widerstrebend. »Mr. Williams erwartet
Sie .« Er schloß das Tor mit einem Schlüssel auf, der
an Größe durchaus der Vorstellung von Ewigkeit entsprach, und wies mit einer
Handbewegung auf die weiße Betonstraße, die zwischen grünem Gras entlangführte.
»Fahren Sie hier entlang, dann stoßen Sie nach sieben- bis achthundert Meter
auf den Hauptbau. Ich werde Mr. Williams anrufen und ihm sagen, daß Sie kommen .«
»Vergessen
Sie nicht, ihm mitzuteilen, wer wir sind«, sagte ich. »Zu dieser
nachtschlafenden Zeit sind wir nicht in Stimmung, ihm Angebote für ’ne Parzelle
auf seinem Grundbesitz hier zu machen. Verstehen Sie ?« Falls mir der alte Knabe zugehört hatte, gab er es jedenfalls nicht zu
erkennen.
Polnik quetschte sich wieder in den Healey, und ich setzte
mich neben ihn. Wir fuhren durch das offene Tor und die Betonstraße entlang.
Ungefähr eine Minute später hielten wir vor dem imposanten Betonkasten, dessen
gotischer Spitzbogeneingang zwei massive Bronzeflügel umrahmte. Der Sergeant
warf ihnen, während wir ausstiegen, einen zweifelnden Blick zu.
»Himmel«,
sagte er bewegt, »wenn man da mal drin ist, ist man drin. Nicht, Lieutenant?«
Ich
blickte auf die großen Bronzebuchstaben über dem Spitzbogen, las Ewige Ruhe und nickte mitfühlend.
»Aber
es ist alles so hygienisch hier. Das würde Ihnen doch gefallen, oder nicht ?«
Polnik schauderte erneut. »Ich vermute, daß man meine
Alte, wenn sie hier drin jemals anfinge loszuheulen — was sehr unwahrscheinlich
ist — , wegen Ruhestörung hinausspedieren würde.«
Ein
kleiner adretter Mann in dunklem Anzug eilte über die Haupttreppe herab auf uns
zu.
»Ich
heiße Williams«, sagte er erregt. »Ich bin hier Superintendent. Das ist eine
schreckliche Sache, Lieutenant, ganz schrecklich! So was ist hier noch nie
vorgekommen .«
»Wollen
Sie behaupten, das sei Ihre erste Leiche hier ?« grunzte Polnik mißtrauisch. »Was für ’n Lokal ham wer denn hier? ’ne Eisdiele, oder was?«
Das
Gesicht des Superintendenten verzog sich plötzlich, und seine Hand fuhr unter
die Jacke, um sich dort angelegentlich zu kratzen. In seinen Augen tauchte kurz
ein Schimmer wonnevoller Erleichterung auf, und
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