SdG 04 - Die eisige Zeit
vielerlei Gestalt annehmen. Hätten sie sich nicht mit den Imass zusammengetan, um Raest in Ketten zu legen, dann würden sie jetzt alle – Imass und Jaghut gleichermaßen – die Knie vor diesem Tyrannen beugen. Ein zeitweiliger, aus Gründen der Zweckdienlichkeit geschlossener Waffenstillstand. Sie war klug genug gewesen, um zu fliehen, sobald Raest in Bande geschlagen war; ihr war schon damals klar gewesen, dass der Imass-Clan danach die Verfolgung wieder aufnehmen würde.
Die Mutter empfand keine Bitterkeit, doch das minderte ihre Verzweiflung nicht.
Plötzlich spürte sie eine neue Präsenz auf der kleinen Insel. Ihr Kopf ruckte hoch. Ihre Kinder waren wie versteinert, starrten voller Entsetzen die Imass an, die vor ihnen stand. Die grauen Augen der Mutter wurden zu schmalen Schlitzen. »Wie überaus gerissen, Knochenwerferin. Meine Sinne waren voll und ganz auf die gerichtet, die sich hinter uns befinden. Nun gut, dann mach ein Ende.«
Die junge, schwarzhaarige Frau lächelte. »Willst du diesmal nicht feilschen, Jaghut? Sonst versucht ihr doch immer zu feilschen, um das Leben eurer Kinder zu retten. Oder hast du die Familienbande zu diesen beiden schon durchtrennt? Sie scheinen mir ziemlich jung dafür.«
»Es hat keinen Sinn zu feilschen. Dein Volk lässt sich niemals auf einen Handel ein.«
»Das stimmt – und doch versucht dein Volk es immer wieder.«
»Ich werde es nicht tun. Töte uns also. Töte uns schnell.«
Die Imass trug das Fell eines schwarzen Panthers. Ihre Augen waren ebenso schwarz, und im ersterbenden Licht schienen sie genauso zu schimmern. Sie sah wohlgenährt aus, und ihre großen, geschwollenen Brüste deuteten darauf hin, dass sie erst vor kurzem niedergekommen war.
Die Jaghut-Mutter konnte den Gesichtsausdruck der Frau nicht deuten; doch sie bemerkte, dass ihre Miene nicht die typische grimmige Entschlossenheit zeigte, die sie normalerweise mit den fremdartigen, runden Gesichtern der Imass verband.
Die Knochenwerferin sprach. »An meinen Händen klebt schon genug Jaghut-Blut. Ich werde euch dem Kron-Clan überlassen, der euch morgen finden wird.«
»Für mich«, sagte die Jaghut-Mutter grollend, »ist es nicht von Bedeutung, wer von euch uns tötet – nur, dass ihr uns tötet.«
Der Mund der jungen Frau zuckte. »Ich verstehe, was du meinst.«
Die Erschöpfung drohte die Jaghut-Mutter zu überwältigen, aber sie schaffte es, sich aufzusetzen. »Was …«, fragte sie, unterbrochen von keuchenden Atemzügen, »was willst du?«
»Ich möchte dir einen Handel vorschlagen.«
Der Jaghut-Mutter verschlug es schier den Atem. Sie starrte in die dunklen Augen der Knochenwerferin, konnte jedoch keinen Spott darin erkennen. Einen winzigen kurzen Augenblick lang fiel ihr Blick auf ihren Sohn und ihre Tochter, dann wieder auf die Frau, die die Jaghut nicht aus den Augen gelassen hatte.
Die Imass nickte langsam.
Vor einiger Zeit war die Erde geborsten, und es war eine Wunde von solcher Tiefe entstanden, dass sie einen Fluss aus geschmolzenem Gestein gebar, so breit, dass er von Horizont zu Horizont reichte. Riesig und schwarz wälzte sich der Fluss aus Steinen und Asche südwestwärts, hinab zum weit entfernten Meer. Nur die kleinsten Pflanzen hatten hier Fuß fassen können, und als die Knochenwerferin mit einem Jaghut-Kind in jeder Armbeuge vorbeiging, wirbelte sie heiße Staubwolken auf, die unbeweglich hinter ihr in der Luft hängen blieben.
Sie schätzte, dass der Junge ungefähr fünf Jahre alt war, seine Schwester vielleicht vier. Keines der beiden Kinder schien ganz bei Sinnen zu sein, und ganz sicher hatte keines der beiden ihre Mutter verstanden, als sie sie umarmt und ihnen Lebewohl gesagt hatte. Die lange Flucht den L’amath hinunter und über das Jaghra Til hatte die beiden in einen Schockzustand versetzt. Und dass sie den schrecklichen Tod ihres Vaters hatten mit ansehen müssen, hatte es nicht gerade besser gemacht.
Mit ihren kleinen, schmuddeligen Händen klammerten die zwei sich an der Knochenwerferin fest, eine Geste, die grausame Erinnerungen an das Kind heraufbeschwor, das sie erst vor kurzem verloren hatte. Es dauerte nicht lange, und die beiden begannen an ihren Brüsten zu saugen, ein Zeichen dafür, dass sie schrecklich hungrig sein mussten. Einige Zeit später schliefen sie ein.
Als sie sich der Küste näherte, wurde der Lavastrom schmaler. Zu ihrer Rechten erhob sich eine Hügelgruppe, die in der Ferne in ein Gebirge überging. Direkt vor ihr
Weitere Kostenlose Bücher