Die Eiserne See - Brook, M: Eiserne See
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Mina hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet Zucker den Ball der Marquise von Hartington scheitern lassen würde; sie hatte eher geglaubt, das Tanzen würde es tun. Allerdings hatte die gute Laune der Gastgeberin die Gäste darüber hinwegsehen lassen, dass weniger als vierzig von ihnen die Schritte kannten und sie trotzdem die ersten Quadrillen gemeistert hatten. Als jedoch die Temperatur im Raum wärmer, das Gelächter lauter und das Getratsche lebhafter wurde, sorgte der Tisch mit den Erfrischungen dafür, dass der Erste Jährliche Siegesball einen katastrophalen Verlauf nahm.
Was bedeutete, dass Mina das Ereignis viel mehr genoss, als sie erwartet hatte.
Nicht, dass es nicht so großartig gewesen wäre, wie alle vorausgesagt hatten; die Instandsetzung von Devonshire House hatte, wie nicht zu übersehen war, Hartington einiges gekostet. Mit zahllosen Kerzen versehene Lüster tauchten alle in dem großen Ballsaal in ein vorteilhaftes Licht. Verborgene Gaslampen beleuchteten die riesigen Wandgemälde, die den Raum schmückten; noch hatte ihr Rauch die mit Seidentapeten ausgekleideten Wände nicht verschmutzt. Auf der Galerie spielten richtige Musiker, und ihre Violinen klangen viel schöner als die mechanischen Instrumente, an die Mina gewöhnt war – und viel schöner als das trockene Husten von vierzig Gästen, die allesamt Bounder waren.
Vor zweihundert Jahren, als ein Großteil der Europäer vor der Kriegsmaschinerie der Horde geflohen war, hatten sich ein paar Engländer angeschlossen. Doch eine Schiffspassage über den Atlantik war nicht billig gewesen, und obwohl nicht alle Familien, die von England aus in die Neue Welt aufgebrochen waren, dem Adel angehörten, waren sie doch fast alle recht begütert gewesen. Nachdem der Eiserne Herzog England von der Macht der Horde befreit hatte, waren viele von ihnen nach London zurückgekehrt, um ihre Titel und ihren Reichtum zur Schau zu stellen. Jetzt, neun Jahre nach dem Sieg Britanniens über die Horde, hatten die adligen Bounder beschlossen, einen Ball zu organisieren, um die neu gewonnene Freiheit des Landes zu feiern, obwohl sie selbst kein Blut vergossen hatten, um sie zu erlangen. Großzügigerweise hatten sie auch all die anderen eingeladen, die keine großen Namen, jedoch Titel trugen.
Auf den ersten Blick konnte Mina keine großen Unterschiede unter den Gästen ausmachen. Die Bounder sprachen mit leichterem Akzent, und die Kleider ihrer Frauen zeigten weniger Haut an Hals und Armen, doch ihre Kleidung entsprach der aktuellen Mode der Neuen Welt. Trotzdem vermutete Mina, dass vierzig der Gäste nicht einmal ahnten, wie sehr dem Rest der Gesellschaft diese Kleider am Herzen lagen.
Und wahrscheinlich ahnten sie auch nicht, wie eigensinnig der Rest der Gesellschaft sein konnte, trotz ihres Hungers und Durstes.
Mina saß mit ihrer Freundin an der südlichen Wand des Ballsaals und wartete darauf, dass die Bewirtung begann. Angesichts von Felicitys Zustand musste sie wahrscheinlich selbst dafür sorgen. Blassblauer Satin bedeckte den hochschwangeren Bauch ihrer Freundin. Beim Anblick eines solchen Bauchs, der versorgt sein wollte, verstand Mina gar nicht, dass Felicity nicht fortwährend hungrig war und alles, was ihr zwischen die Finger kam, verschlang. Wenn keine zuckerfreien Kuchen zur Verfügung standen, konnte sie ja mit den Boundern anfangen.
»Wenn Richmond so lange fortbleibt, hat er bestimmt nichts gefunden.«
Unter dem aufwendig in Locken gelegten blonden Haar, bei dessen Anblick Mina, als sie es vorhin zum ersten Mal gesehen hatte, in Lachen ausgebrochen war, suchte Felicitys Blick die Menge nach ihrem Mann ab. Mit einem Seufzen drehte sie sich zu ihrer Freundin um. »Oh, Mina. Du bist viel zu vergnügt. Ich bezweifle, dass jemand handgreiflich wird.«
»Das sollten sie aber.«
»Denkst du, es ist eine Beleidigung, süße und kräftige Limonade auszuschenken? Und Kuchen aufzutürmen?« Felicity rieb sich den Bauch und blickte sehnsüchtig zu den Kuchenbergen. Mina vermutete, dass sie als Symbol für Englands Sieg über die Horde bereits verschlungen worden sein sollten, doch türmten sie sich noch immer auf. »Bestimmt ist ihnen gar nicht klar, wie viel uns das bedeutet.«
»Oder sie haben gedacht, man muss uns wie Kindern zeigen, dass wir importierten Zucker essen können, ohne zu Sklaven zu werden.«
Vor zweihundert Jahren hatte die Horde ihre Naniten wie unsichtbare Bazillen in Tee und Zucker versteckt und diese billig verkauft. Die
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