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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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aus meinem Dorf waren bestimmt auch dabei. Viele aus unserem Dorf sind nach Minsk gezogen und dienen bei der Miliz: Kolka Latuschka, Alik Kasnatschejew … Ganz normale Jungs. Junge Leute wie wir, nur mit Schulterstücken. Und die sollten uns angreifen? Das glaubten wir nicht … Nein, auf keinen Fall … Wir lachten, alberten herum. Wir agitierten sie: »He, Jungs, wollt ihr etwa gegen das Volk kämpfen?« Es schneite immer weiter. Und dann … Wie bei einer Parade … Da kam das Kommando: »Die Menge auflösen! In Reih und Glied bleiben!« Das Gehirn schaltete nicht gleich auf die Realität um, nicht sofort … denn das konnte doch nicht sein … »Die Menge auflösen …« Einen Augenblick lang herrschte Stille. Und gleich darauf – das Dröhnen von Schilden … das rhythmische Dröhnen von Schilden … Sie liefen los … In Reihen rückten sie vor und schlugen mit den Gummiknüppeln auf die Schilde, wie bei einer Treibjagd. Wie Jäger, die eine Beute hetzen. Sie liefen und liefen. Ich hatte noch nie so viele Militärs gesehen, nur im Fernsehen. Später erfuhr ich von den Jungs aus meinem Dorf … Man bringt ihnen bei: »Das Schlimmste, was euch passieren kann, ist, wenn ihr in den Demonstranten Menschen seht.« Sie werden abgerichtet wie Hunde. (Sie schweigt.) Schreie … Weinen … Schreie: »Sie schlagen zu! Sie schlagen zu!« Ich sah es – sie schlugen zu. Und wissen Sie was? Sie schlugen voller Eifer. Mit Freude. Ich erinnere mich, dass sie voller Eifer schlugen … als wäre es nur ein Training … Ein Mädchen kreischte: »Was tust du, du Bastard!« Mit ganz hoher Stimme. Dann brach der Schrei ab. Ich hatte solche Angst, dass ich für einen Moment die Augen schloss. Ich trug eine weiße Jacke und eine weiße Mütze. Ich war ganz in Weiß.
     
    »Schnauze in den Schnee, du Sau!«
     
    Der Häftlingstransporter … Das ist ein wahres Wundergefährt. Ich habe es dort zum ersten Mal gesehen. Ein spezielles Auto für den Transport von Häftlingen. Ganz mit Stahl ausgekleidet. »Schnauze in den Schnee, du Sau! Eine Bewegung, und ich knall dich ab!« Ich lag auf dem Asphalt … Nicht allein, wir alle lagen da … mein Kopf war leer … ohne jeden Gedanken … Die einzige reale Empfindung war die Kälte. Mit Fußtritten und Knüppelhieben jagten sie uns hoch und trieben uns in die Transporter. Am meisten bekamen die Männer ab, sie wurden vorzugsweise zwischen die Beine geschlagen. »Schlag auf die Eier, auf die Eier! Auf den Pimmel!« »Hau auf die Knochen!« »Mach sie platt!« Während sie prügelten, gaben sie Kommentare ab: »Eure Revolution ist im Arsch!« »Für wie viel Dollar hast du die Heimat verkauft, du Schwein?« Ein Transporter von zwei mal fünf Metern ist für zwanzig Personen gedacht, sagen Leute, die sich auskennen, doch wir wurden zu fünfzigst hineingepresst. Kein Spaß für Herzkranke und Asthmatiker! »Nicht aus dem Fenster sehen! Kopf runter!« Unflätige Beschimpfungen … Wegen uns »unterbelichteten Schwachköpfen«, die sich »an die Amis verkauft haben«, verpassten sie heute das Fußballspiel. Sie hatten den ganzen Tag in geschlossenen Autos gesessen. Unter Zeltplanen. Sie hatten in Plastiktüten und Präservative pinkeln müssen. Als sie rausgelassen wurden, waren sie hungrig und wütend. Vielleicht waren sie an sich keine schlechten Menschen, aber sie waren Henkersknechte. Ganz normal aussehende Jungs. Kleine Rädchen im System. Schlagen oder nicht schlagen, das entschieden nicht sie, aber sie waren es, die schlugen … Erst schlugen sie, dann dachten sie nach, aber vielleicht dachten sie auch gar nicht nach. (Sie schweigt.) Wir fuhren lange, ziemlich weit, dann wendeten wir und fuhren wieder zurück. Wohin? Wir hatten keine Ahnung. Als die Türen geöffnet wurden, bekamen wir auf die Frage »Wohin werden wir gebracht?« die Antwort: »Nach Kuropaty.« Dort ist ein Massengrab von Opfern stalinscher Verfolgungen. Das waren so ihre sadistischen Späßchen. Wir fuhren lange kreuz und quer durch die Stadt, weil fast alle Gefängnisse überfüllt waren. Die Nacht verbrachten wir im Transporter. Draußen herrschten minus zwanzig Grad, und wir saßen in einer Stahlkiste. (Sie schweigt.) Ich müsste sie hassen. Aber ich will niemanden hassen. Dazu bin ich nicht bereit.
    Im Laufe der Nacht wechselte die Wache mehrfach. An die Gesichter erinnere ich mich nicht, in Uniform sehen alle gleich aus. Aber einer … Ihn würde ich noch heute auf der Straße erkennen, an den Augen würde ich ihn

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