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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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eine Stunde.
    Irgendwann gab er nach, ließ sich von Roland auf die Beine ziehen, die er kaum noch spürte. Er setzte gehorsam einen Fuß vor den anderen und dachte dabei an die zwei Paar Wollsocken, die er extra angezogen hatte und die ein Weihnachtsgeschenk seiner Frau gewesen waren.

ZWEI
    Clara träumte. Sie schwamm im Meer, seit Stunden schon. Allmählich gingen ihr die Kräfte aus. Sie würde ertrinken. Da war ein Boot, es schaukelte auf den Wellen, mal war es ganz nah, dann entfernte es sich wieder. Sie strengte sich an, schwamm, so schnell sie konnte, und kam ganz dicht heran. Eine Hand streckte sich ihr entgegen, sie griff nach ihr, mit letzter Kraft - und griff ins Leere.
     
    Mit einem Ruck wachte sie auf. Sie lag in Micks Bett, und sie war allein. Ihre Hand, die im Traum so verzweifelt nach der Rettung gegriffen hatte, lag ausgestreckt auf der leeren Bettseite ihres Freundes. Langsam zog sie sie zurück und setzte sich auf. Es war keine gute Idee gewesen hierherzukommen. Hier fühlte sie sich noch verlassener als bei sich zu Hause. Sie stieg aus dem Bett und tappte zu Elise, ihrer großen, grauen Dogge, hinüber, um ihr einen guten Morgen zu wünschen. Nach anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten hatte sich Elise, wie Clara auch, an die immer häufiger werdenden Ortswechsel zwischen ihrer und Micks Wohnung gewöhnt, und sie hatte mittlerweile auch einen Lieblingsplatz gefunden, der gleichzeitig Micks Lieblingsplatz war: einen alten Ohrensessel, der am Fenster stand und mit Stapeln von Büchern umgeben war wie ein Strandkorb von einer Sandmauer. Fehlten nur noch die Wimpel. Der Stuhl war, obwohl ziemlich groß, eigentlich zu klein für Elise, die den Umfang eines
mittelgroßen Kalbes hatte, doch es schien sie nicht zu stören. Zusammengerollt, als sei sie ein kleines Kätzchen, kauerte sie auf dem Polster, und je nach Entspannungszustand hingen nach und nach verschiedene Körperteile darüber hinaus. Im Augenblick waren es ihr Kopf auf der einen und das rechte Hinterbein auf der anderen Seite. Es war Clara ein Rätsel, wie man in dieser Stellung schlafen konnte, selbst wenn man ein Hund war.
    Sie ging auf der Seite des Kopfes in die Knie und kraulte Elise hinter den Ohren. Der Hund öffnete ein Auge und schnaufte freundlich. Zu mehr war er noch nicht zu bewegen. Clara lächelte und wanderte weiter zur Küchenzeile, die sich auf der anderen Seite des großen Raumes befand und ebenso verlassen wirkte wie die ganze Wohnung. Sie öffnete eine Schranktür, eine Schublade nach der anderen und seufzte. War ja klar gewesen: Tee, Tee, nichts als Tee. Wenn sie nicht für Kaffee sorgte, war keiner da. Es gab an Mick zwei Dinge, die so typisch englisch waren, dass Clara manchmal glaubte, er selbst habe seinen größten Spaß daran, diese Klischees am Leben zu erhalten: seine absolute Überzeugung, dass Tee das einzig mögliche Heißgetränk war, das man zu sich nehmen konnte, mit Ausnahme von heißem Whiskey für die ganz schweren Fälle, und seine Vorliebe für unverdauliches Frühstück, das er passenderweise »first heart attack« nannte und das werktags in der Regel aus riesigen, labbrigen Weißbrotscheiben mit lauwarmen weißen Bohnen in Tomatensoße bestand und an Feiertagen von zahllosen Eiern mit Speck und grünlichen Würstchen mit Sägespänefüllung gekrönt wurde. Der Gipfel jedoch waren die - Gott sei Dank seltenen - Gelegenheiten, an denen er außerdem gebratene Scheiben Blutwurst zu sich nahm, bei deren Anblick Clara ihr Croissant regelmäßig im Hals stecken blieb.

    Aber heute war nichts dergleichen in seiner Küche zu finden. Nur Tee. Tee und Haferflocken für die magere Variante des englischen Frühstücksrituals, Porridge, das, wenn man Mick glauben mochte, ein Allheilmittel für jegliche Art von Unwohlsein am Morgen darstellte, was aus Claras Sicht kein Wunder war. Wer würde nicht nach ein paar Löffeln lauwarmen, fädenziehenden Haferschleims zur sofortigen Genesung tendieren und fluchtartig das Weite suchen?
    Sie machte sich auf den Weg ins Bad. Also Frühstück bei Rita im Café. Das war ohnehin eine bessere Idee, als allein in der leeren Wohnung herumzusitzen und trüben Gedanken nachzuhängen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, hier zu übernachten? Als ob ein Raum, eine Wohnung allein trösten könnte. Als ob darin etwas von der Geborgenheit zurückbliebe, die nur ein bestimmter Mensch geben kann. Aber seit Mick fort war, kamen ihr des Öfteren solche wunderlichen Gedanken. Obwohl es ja

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