Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
Vom Netzwerk:
1
Ein Paßbild
    Sie erinnerte mich an die Tochter, die ich mir manchmal gewünscht habe. Wache Augen, ein Mund, der gerne lacht, hohe Wangen und volle braune Locken bis auf die Schultern. Ob sie klein war oder groß, dick oder dünn, krumm oder gerade, zeigte das Photo nicht. Es war nur ein Paßbild.
    Ihr Vater hatte mich angerufen, Ministerialdirigent Salger aus Bonn. Seit Monaten sei die Familie ohne Nachrichten von Leonore. Man habe zuerst einfach gewartet, dann bei Freunden herumtelephoniert, schließlich die Polizei benachrichtigt. Nichts. »Leo ist ein selbständiges Mädchen und geht ihrer Wege. Aber Kontakt hat sie immer gehalten, Besuche und Anrufe. Zuletzt haben wir noch gehofft, daß sie zu Semesterbeginn wieder auftaucht. Sie studiert Französisch und Englisch am Heidelberger Dolmetscherinstitut. Nun, das Semester hat vor zwei Wochen angefangen.«
    »Ihre Tochter hat sich bei der Universität nicht wieder eingeschrieben?«
    Er antwortete gereizt: »Herr Selb, ich wende mich an einen privaten Ermittler, damit er ermittelt und nicht ich. Ich weiß nicht, ob Leo sich wieder eingeschrieben hat.«
    Ich erklärte ihm geduldig, daß in der Bundesrepublik Deutschland jährlich Tausende als vermißt gemeldet werden und daß die meisten freiwillig unter- und auch wieder auftauchen. Sie wollen mit den besorgten Eltern, Gatten und Geliebten, die sie als vermißt melden, einfach eine Weile nichts zu tun haben. Solange man über sie nichts hört, besteht eigentlich kein Grund zur Besorgnis. Wenn etwas Schlimmes passiert, Unfall oder Verbrechen, hört man’s.
    Das alles wußte Salger. Die Polizei habe es ihm bereits gesagt. »Ich respektiere Leos Selbständigkeit durchaus. Sie ist mit fünfundzwanzig kein Kind mehr. Ich verstehe auch, wenn sie Distanz braucht. Es hat in den letzten Jahren Spannungen zwischen uns gegeben. Aber ich muß wissen, wie sie lebt, was sie macht, wie es ihr geht. Sie haben wohl keine Tochter?«
    Ich sah nicht ein, was ihn das anging, und antwortete nicht.
    »Es geht auch nicht nur um meine Sorge, Herr Selb. Was meine Frau seit Wochen durchmacht … Also berichten Sie uns bald. Dabei will ich nicht, daß Sie Leo ansprechen und bloßstellen. Sie soll von der ganzen Suche nach ihr nichts merken, und ihr soziales Umfeld auch nicht. Ich fürchte, daß sie das ganz, ganz falsch verstehen würde.«
    Das klang nicht gut. Man kann jemanden heimlich beschatten, wenn man ihn hat, und offen suchen, wenn man ihn nicht hat. Ihn nicht haben und so suchen, daß er und sein Umfeld von der Suche nichts merken, geht schlecht.
    Salger drängte. »Sind Sie noch dran?«
    »Ja.«
    »Dann gehen Sie sofort an die Arbeit, und berichten Sie so bald wie möglich. Meine Telephonnummer …«
    »Herr Salger, ich werde Ihren Auftrag nicht übernehmen. Guten Tag.« Ich legte auf. Mir ist eigentlich gleichgültig, wie gut oder schlecht die Manieren meiner Klienten sind. Ich bin jetzt bald vierzig Jahre Privatdetektiv und habe sie alle erlebt, die mit und die ohne Kinderstube, die Schüchternen und die Anmaßenden, Angeber und Feiglinge, arme Teufel und feine Pinkel. Dann waren noch die, mit denen ich davor als Staatsanwalt zu tun gehabt hatte, Klienten, die lieber keine gewesen wären. Aber bei aller Gleichgültigkeit – in dem Ministerialorchester, in dem der herrische Ministerialdirigent Salger den Taktstock führte, wollte ich meine Flöte nicht spielen.
    Als ich am nächsten Morgen wieder zu meinem Büro in der Augustaanlage kam, hing an der Klappe unten in der Tür der kleine gelbe Zettel der Deutschen Bundespost: »Sehen Sie bitte sofort in Ihren Hausbriefkasten!« Das wäre nicht nötig gewesen; die Briefe fallen durch die Klappe auf den Boden des ehemaligen Tabakladens, in dem mein Schreibtisch, dahinter ein Sessel, davor zwei Stühle, ein Aktenschrank und eine Zimmerpalme stehen. Ich hasse Zimmerpalmen.
    Der Eilbrief war dick. Ein Bündel Hundertmarkscheine zwischen einer gefalteten beschriebenen Seite.

    Sehr geehrter Herr Selb, bitte verstehen und entschuldigen Sie mein Verhalten vorhin am Telephon aus der Anspannung, unter der meine Frau und ich seit Wochen stehen. Ich kann nicht annehmen, daß Sie wegen des fehlgelaufenen Telephongesprächs Ihre Hilfe verweigern. Erlauben Sie, daß ich als Anzahlung für Ihre Bemühungen DM 5000 .– beilege. Bitte bleiben Sie über o. a. Telephonnummer in Kontakt mit mir. Zwar werden Sie in den nächsten Wochen nur meinen Anrufbeantworter erreichen; ich muß meine Frau aus der

Weitere Kostenlose Bücher