Semmlers Deal
Mensch zu sein. Er polierte mit dem Tuch den messingfarbenen Leuchter. Semmler sah zu. Ruhe überkam ihn.
»Eine Scheißarbeit ist das«, sagte der Pfarrer nach einer Weile. »Erst müssen Sie das ganze Ding mit so einer Paste einlassen« – er deutete auf eine Plastikflasche hinter sich auf der ersten Kirchenbank – »und dann Polieren – ›bis alles glänzt‹, steht so auf der Anleitung. Tatsache ... Bis alles glänzt.«
Semmler wusste nicht mehr, wie er anfangen sollte. Pfarrer Mosers Wortwahl hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Schriftlich drückte er sich viel gewählter aus. Jeder, der in diesem Land eine Tageszeitung las (es gab zwei), kannte den Pfarrer als Leserbriefschreiber. Seine Leserbriefe hatten ein einziges Thema, den Verfall der Moral, den er an immer neuen Beispielen anprangerte. Er wetterte gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr, gegen praktisch jedes zeitgenössische Stück, das es ins Bregenzer Landestheater geschafft hatte, gegen die Ehescheidung und gegen die Abtreibung. Das war sein Lieblingsthema. Die Konservativen lasen seine Ergüsse mit der inneren Befriedigung: Da traute sich einer, es der linken Bagage hineinzusagen. Gleichzeitig gab es bei ihnen eine noch weiter innen liegende, gleichsam innerste Befriedigung: dass sie selber nicht so extrem waren wie Pfarrer Moser, denn im Vergleich mit ihm konnte sich jeder gesetzte Buchhalter oder Prokurist, der zu Hause die Frau und seine halbwüchsigen Kinder gegen sich hatte, wie ein aufgeklärter Liberaler vorkommen. Die »linke Bagage« las die Briefe des Pfarrer Moser als Unterhaltungsbeiträge, etwa wie die Witzseite. Man schämte sich ein bisschen, so etwas überhaupt zu lesen, las es aber doch. Pfarrer Moser war nicht mehr reaktionär, sondern das Zerrbild eines Reaktionären, und er war nicht einmal von politischen Gegnern dazu gemacht worden, es war alles ein eigenes Werk. Erwar in keinen Dialog eingebunden, in keine Debatte verwickelt, niemand fand seine Auslassungen einer Antwort würdig, nicht einmal jene, die ihm zustimmten; man las die Leserbriefe mit Abscheu oder Vergnügen, aber man diskutierte nicht mit ihm. Er war die Stimme eines Rufers in der Wüste.
Er schien sich nicht zu wundern, dass ein Wildfremder die Kirche betrat, um ihm bei der Arbeit zuzuschauen. Er polierte weiter den Kerzenständer und blieb, wie es Semmler vorkam, ruhig dabei. Er redete nicht und erwartete nicht, dass der Besucher mit dem Reden anfing. Aber darum ging es ja ... Semmler, der sich die letzten Minuten in Gedanken um die merkwürdige öffentliche Stellung des Pfarrers verloren hatte, riss sich zusammen.
»Ich komme zu Ihnen, Herr Pfarrer, weil ich jemanden suche«, begann er. »Eine Frau Mießgang.«
Pfarrer Moser hielt inne. »Nie gehört«, sagte er.
»Aber diese Frau war Ihre Haushälterin ...«
»Wer sagt das?«
»Na, sie selber!«
»Dann hat sie Ihnen einen Bären aufgebunden. Komischer Humor ... ich hatte nie ein Haushälterin mit diesem Namen.« Er begann mit dem Polieren, hielt gleich wieder inne. »Sie hat Ihnen das gesagt, dass sie bei mir putzt oder so?«
»Ja, genau.«
»Das verstehe ich nicht. Wenn diese Frau – wie war das? Mieß ... ?«
»Mießgang.«
»Wenn die Ihnen das gesagt hat, hatten Sie doch Kontakt, warum suchen Sie die hier?«
»Ich hatte Kontakt, das stimmt schon, aber jetzt ist er abgerissen. Sie ist verschwunden.«
Das hatte er nicht sagen wollen, das ging von allen Menschen im Land diesen Pfarrer am wenigsten an. Er war auch zu lang gelaufen, das Bein tat weh.
»Wenn Ihnen das Bein weh tut«, sagte Pfarrer Moser, »dann setzen Sie sich doch.« Er deutete auf die erste Reihe Kirchenbänke. Semmler nahm Platz, der Schmerz ließ nach. Er legte den Stock neben sich.
»Wissen Sie nicht, wo die Frau wohnt?« Pfarrer Moser hatte das Polieren wieder aufgenommen.
»Das ist ja das Seltsame. Ich war in ihrer Wohnung, zwei Mal. Ich hab das Haus auch wieder gefunden, natürlich ... eine Siedlung in Rankweil. Aber sie war nicht da ...«
»Verreist?«
»Nein, es hat jemand anderer dort gewohnt ...«
»Dann ist sie halt umgezogen.«
»Das hab ich auch geglaubt. Der Mann, der jetzt ihre Wohnung hatte, behauptet ... das kann alles nicht sein ... entschuldigen Sie, ich will Sie nicht mit diesem Kram belästigen.«
»Sie belästigen niemanden ... Lassen Sie mich raten: der Mann sagt, er wohnt schon seit Jahren in dieser Wohnung?«
»Seit fünf Jahren, jawohl. Woher wissen Sie das?«
»Ich kann es mir denken. Sie
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