Der Ring
I. Die Grimasse des Verbrechens
1
Die Mauer war hoch, und die Nacht war eisig. Mutantengrillen zirpten. Sie hatten vor dem Eindringling keine Angst und lieferten einen Schallvorhang, der die unvermeidlichen Geräusche seines Aufstieges maskierte. Glänzendes Blattwerk schwankte unter wiederkehrenden Windstößen gegen die Mauer. Es warf vielfach gefleckte Mondschatten darauf, die die Bewegungen des Kletternden tarnten. Die Natur half ihm – die von Menschen konstruierten Mechanismen auf der anderen Seite waren nicht so gütig.
Jeff Font zog sich über die obere Kante und drückte sich flach gegen die abklingende Sonnenwärme des Steins. Sein Atem ging schwer, aber er zwang die Luft ruhig und gleichmäßig durch die Nase und ließ dabei seinen Körper von der Anstrengung ausruhen. Der Wind schnitt ihm in die Augen und lockte Tränen hervor; für einen Moment fühlte er sich in eine Zeit getragen, in der er als Kind aus anderem Grund geweint hatte – gar nicht so weit von hier.
Aber jetzt war nicht die Zeit für solche Erinnerungen! Er mußte erst die Heuchelei hinwegfegen, die drei Leben zerstört und einen unrechtmäßigen Machthaber in den Sattel gehoben hatte.
Der Mond verblaßte. Jeffs Hand glitt über den inneren Rand der Mauer und fand das Seil mit dem selbstklebenden Plastoid-Ende. Er zerrte es von der Mauer los, rollte es auf und warf es in die Dunkelheit hinunter, die vor ihm gähnte. Er lauschte auf den gedämpften Aufschlag und zitterte von dem Außenklima der Erde.
Der Mond kam wieder; er übergoß das mauerumschlossene Gelände und das herrschaftliche Haus dahinter mit seinen Strahlen. Jeff zog seinen Umhang aus schwarzer Fiber um sich, vergewisserte sich, daß die vier Kugelbehälter in den verschlossenen Taschen steckten, rollte sich über die Kante und sprang. Der innere Garten lag nicht so tief.
Im Fallen riß ihm der Wind den Umhang hoch und befingerte seinen nackten Körper. Er schlug auf den Rasen und taumelte hinter formbeschnittene Hecken. Der feuchtgrüne Geruch von gemähtem Gras stieg um ihn her auf. Er fand im Dunkeln das Seil und schob es dicht an die Mauer; dann rannte er los.
George McKissics unglaublich luxuriöses Wohnhaus zeichnete sich vor ihm undeutlich ab; in diesem Licht sah es aus wie ein psychedelisches Skelett aus durchschimmernden Balken. Jeff machte einen Bogen um die nackten Standbilder, um den Teich mit den Umrissen einer Frau, um die vielsagend gerundeten Pfade und Hecken. Er ärgerte sich über den verschwenderischen Raum, den sie auf einer übervölkerten Welt einnahmen, und über die starke Wirkung, die die Symbole auf ihn hatten. Statt dessen versuchte er sich auf die Wärmewitter-Einheiten zu konzentrieren, die es hier mit Gewißheit gab; auf die Unterschall-Geschützstellungen und die Nachtstrahlen. Eine falsche Berechnung, eine einzige Ablenkung konnte ihn entlarven, und dann … aus!
Er erreichte das Haus. Wieder zwang er seinen stoßweisen Atem nieder, während er im Hausschatten stehenblieb. Er hatte es geschafft! Das hieß, wenn McKissic nicht auf lautlose Alarmsysteme umgestellt hatte …
Nein: Sein Informant war in dieser Beziehung ganz sicher gewesen. Jeff fand die Wirksamkeit seiner Vorkehrungen bestätigt. Es gab keinerlei Metall an ihm, nicht einmal in seinen Zähnen, und er hatte die Verteidigungsanlagen der Besitzung eingehend studiert.
Ein Laut? War das ein Laut gewesen? Er lauschte. Jetzt, da er stillstand, war er viel angespannter als in der Bewegung.
Ein unbedeutendes Geräusch wohl, von einer Laune des Windes herangetragen; ein Schnüffeln und Schlurfen …
Die Bluthunde!
Er hatte beinahe die Bluthunde vergessen! Die riesenhaften künstlichen Wesen mit kugelförmigen Nasen, Stahl-Fangzähnen und einer Schnelligkeit, weit größer als die jedes Hundes … Wachhunde, die teilweise aus Fleisch, teilweise aus Metall und größtenteils aus Raserei bestanden. Die elektronische Schaltkreise anstelle von Nerven und Computerzellen anstelle von Gehirnen hatten – und eine Vorliebe für Blut.
Jeff fühlte ein unbehagliches Prickeln auf der Haut. Er tastete in einer Tasche nach einem der weichen Kugelbehälter. Sein Daumen schob sich unter die kugelförmige Einbuchtung an der Unterseite, und seine Finger schlossen sich um den Behälter selbst. Er bewegte sich, als gebe es keinen Grund zur Eile, und biß das verschlossene obere Ende des Nippels ab. Einige Tropfen spritzten ihm in den Mund: ein Auszug aus Maschinenöl, menschlichem Schweiß
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