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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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verzeihen
    dass die eigene Trauer nachlasse Monat für Monat
    Jahr für Jahr
     
    Elegie
     
    Wie soll ich ohne Dich singen? Du warst doch mein Atem.
    Näher als mein Herz, fielst mir leichter als Luft.
    Wie soll ich ohne Dich schlafen, über dem Abgrund der Stille?
    Meine Brust ist aus Stein, mein Körper eine Gruft.
    Man sagt, der Tag bringt das Leben. Aber mich lässt er sterben.
    Fehlt das Licht, das Dich sieht, kann ich auch nicht mehr sein.
    Wie soll ich ohne Dich enden? Du hast mich erfunden!
    Nur wenn Du Dort bist, bin ich nicht mehr allein.

 
    Muna
     
    Die durchschossenen Eisendrahtmatten formen in der Art eines großen zerfetzten Basketballkorbs oder zerrissenen stählernen Fischernetzes die einstige Flugbahn nach an den Rändern des in der Bunkerdecke klaffenden Lochs durch das weißes Tageslicht auf den nackten Boden fällt ragen daumendicke Drähte ins Dunkel wie Tentakel oder Fühler einer zynischen oberirdischen Macht der es eingefallen ist die Finsternis mit alten rostigen Instrumenten zu erforschen eine Blechverkleidung von zehn Metern Länge ist wie eine Stoffkrawatte um eine der mit Brandspuren gezeichneten Betonsäulen gewickelt ich will die
    Schatten
    an den Wänden gar nicht sehen von denen es heißt sie seien wie Negative der im Bunker Schutz Suchenden vom tödlichen Blitz der Bombe in den Beton gebrannt worden ich betrachte nur
    stumm und bleiern
    mit dieser neuen schrecklichen Schwere meines Körpers
    die goldgerahmten Fotos der Kinder und Frauen zwischen den Sträußen echter und künstlicher Blumen den Wimpeln mit Koranversen den Stofftieren und anderen kleinen Erinnerungsstücken
    das Loch
    klafft in meinem Kopf in meinen erzenen Kopf das weiße Licht sengt ihn aus wie ein Schweißbrenner ich werde hierbleiben müssen denke ich aber ich werde bald nicht mehr atmen können ich erstickte schon wären nicht
    Huda und Eren
    immer dicht neben mir stützten sie mich nicht flüsterten sie nicht in mein Ohr umfassten sie nicht meine Oberarme
    alles war falsch! muss ich unentwegt denken mein ganzes früheres Lebenin dem ich schon einmal hier war (vor zwei Jahren) mit der gleichen Schulklasse den gleichen Lehrern die uns die gleiche Darstellung der Ereignisse gaben die sie uns jetzt wieder geben ich denke immer wieder an Kasims Geburtstagsfeier zurück immer wieder an diese mir nun vollkommen unfassliche hoch schwebende Stimmung immer wieder daran dass kein einziger Militär unter den Gästen war immer wieder an
    das Phantom
    meiner schönen glücklichen starken
    Schwester aber
    ES IST DOCH NOCH GAR NICHTS GESCHEHEN!
    sagt Eren beschwörend sie kennt das von ihrer kurdischen Familie von Vorkommnissen in Sulaimaniya und Raniyah im Norden
    als wir das erste Mal in diesen Bunker hinabstiegen war ich fünfzehn ich war erschüttert ich war fassungslos bei der Aussage dass sich die kochende Haut der Menschen in den Beton gebrannt hatte große Wassertanks sollen explodiert und das Wasser sofort verdampft sein ich war voller Hass auf die Amerikaner die (wie es hieß) absichtlich diesen Luftschutzbunker bombardiert hatten in dem sich (wie es hieß) 1000 Menschen befanden oder 500 (wie es woanders hieß) oder 300 (wie es noch weiter westlich hieß) drei Zahlen drei Mal so viele vernichtete unsichtbare Leben
    wer einen Menschen tötet, tötet alle Menschen
    sagst Du vor dem Hintergrund des kleinen Paradies-Dachgartens der Rikabis ich bin vom Modergeruch des Bunkers durchdrungen ich kann bald nicht mehr aufrecht stehen ich sehe dass die ganze Schulklasse Frau Khadurri und Herrn Basim umringt die erneut die Geschichte dieses Bunkers in Al-Amiriya erzählen der am Morgen des 13. Februar 1991 von amerikanischen Tarnkappen-Bombern unter Beschuss genommen wurde diese Führung dieser vorgeschriebene Schulausflug mit dem Bus die unvermeidliche Fröhlichkeit die alle beim Einsteigen ergriff als ginge es um ein Picknick oder zu einem Fußballspiel obwohl sie wussten dass wir nur ein kurzes Stück fahren und dann der Reihe nach durch den weiß umrahmten Bunkereingang gehen würden (am Scheitelpunkt der aus zwei Armen bestehenden Blende eine aufgemalte stilisierte Rose)
    vorgestern noch
    wäre mir das alles nur wie eine lästige Wiederholung erschienen aber jetzt
    ist es wie eine Wiederkehr in einem anderen Leben in dem alles viel schwerer wiegt viel tiefer peinigt so schockierend unruhig so gespenstisch sind die Augen der Getöteten auf den Fotografien als erkennten sie mich plötzlich als wüssten sie dass ich nein:

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