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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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sich
    plötzlich die Fliege wieder löst
    ich läge jetzt so gerne neben Dir wie ich früher bei meiner Mutter gelegen habe und in jenem Hotel in Al-Hillah bei Babylon nicht mehr konnte an Deinen Rücken geschmiegt ohne Furcht ohne Erwartung)
    ich sehe meine Schwester erneut wie
    neu geboren wie in eine
    Vergangenheit
    gerettet vor den Aufzügen des Eiffelturms oder in einem der alten Parks im Louvre in der Metro auf einem Touristenboot auf der Seine in ihrem Studentenwohnheim auf einem Wochenmarkt ich finde sie so schön so feurig so stolz sie bringt mich in die Museen die ich damals schon liebte den Stein vor allem als hätte ich gewusst dass es besser gewesen wäre uns in empfindungslosen Marmor zu verwandeln
    das Steingewicht meiner Schwester drückt meinen Oberkörper nach vorn ich träume von der Skulpturensammlung des Louvre und vom Musée Rodin und dem zu Stein gewordenen Kuss alles kann wiederauferstehen auf geschliffenen Marmorsockeln unter wunderbaren Glasdächern auf schönen glatten Treppen unser Leben wie jene von draußen hereingeholten Parkfiguren im Cour Marly
    ich sagte nicht viel in diesen Pariser Tagen ich dachte vielleicht dass meine Geduld und mein Schweigen meine stärkste Kraft waren (sie sind es noch jetzt) fortwährend redeten debattierten stritten sich mein Vater und meine Schwester während wir durch den energischen Verkehrsfluss der französischen Stadt schwammen oft ohne genaues Ziel
    Tarik kämpfte (nehme ich heute an) er wollte Jasmin überzeugen in Paris zu bleiben zu promovieren oder zu arbeiten ich verstand nicht genau weshalb und worüber sie stritten ich hörte nur immer wieder meine Schwester sagen
    aber der Irak! aber der Irak!
    und sie erhielt Unterstützung von Kasim den sie uns als älteren Kommilitonen vorstellte ich mochte ihn zunächst nicht sonderlich sein langer Hinterschädel und die dünnen Arme stießen mich ab man wusste nicht war er affenähnlich oder schon wieder auf eine Science-Fiction-hafte Art intellektuell aber er war sehr gewinnend und stellte uns im Studentenheim sein penibel aufgeräumtes und geordnetes recht großes Zimmer zur Verfügung immer wieder griff ich nach der Hand meines Vaters wohl weil ich spürte dass er die Auseinandersetzung mit Jasmin verlor und dann
    abglitt träumerisch
    versank er hatte hier doch studiert und so lange mit Farida gelebt hier war er Arzt geworden und von hier aus war Jasmin im Bauch meiner Mutter nach Bagdad zurückgekehrt vielleicht erschien ihm die Wiederkehr der Stadt dennoch wie ein kolossaler Traum denn in Momenten in denen er sich unbeobachtet fühlte prüfte er sie in ihren Details und betastete ungläubig und schamhaft die grün lackierten schmiedeeisernen Geländer die runden Marmortische der Cafés oder die druckfrischen Seiten in den Buchhandlungen
    er trank Wein am helllichten Tag und
    erinnerte sich wohl
    an Dinge von denen er nicht sprechen konnte oder wollte
    Jasmin sitzt gelassen
    an einem Bistrotisch sie raucht sie hat ein Bein über das andere geschlagen ihre Sonnenbrille ist hoch in das schulterlange glänzende Haar geschoben so
    perfekt
    so unverletzt in der Glaspyramide der Vergangenheit
    ich könnte zum Dach hinaufsteigen
    es ist nur eine Treppe niemand achtet auf mich niemand hindert mich ich könnte Dich sehen und Dir mein Leid klagen ich könnte Dir erzählen dass ich in keinem anderen Land sein will als meine Familie dass ich gerade jetzt niemals gehen könnte dass meine Familie jetzt auch alles Geld brauchen wird um meine Schwester zu retten ich
    sitze an meinem Tisch

 
    Martin
     
    Zehn Minuten lang
    lief ich
    nachdem ich mich von Seymour am Parkrand verabschiedet hatte und in Joggingkluft allein auf dem sonntäglich leeren Bürgersteig der Columbia Avenue gestanden war
    ich verfiel
    in Trab um den nächsten Block und konnte kaum aufhören obwohl mein Puls sofort in die Höhe ging wie der eines Untrainierten des Untrainierten der ich geworden bin
    an meinem Schreibtisch
    stehend
    sah ich dann aus dem Fenster und wartete bis mein Körper sich beruhigt hatte bis die nun unvermeidlich durch mein Inneres tanzenden Flammen der Bewegungsfreude erloschen waren über die Bücherreihe unter der Fensterbank habe ich vor einigen Wochen einen Zettel angeheftet
    Ich fühle nicht. Ich untersuche nur.
    um
    mir zu helfen
    werde ich das Denken noch mehr brauchen als bisher denn jetzt wo ich Seymour fest zugesagt habe das Apartment für ein weiteres Jahr zu behalten wirkt meine Entscheidung (endlich) auch für

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