Shadowblade: Dunkle Fesseln: Roman (Knaur HC) (German Edition)
Bauch straffte sich, unter ihrer Haut war das Spiel ihrer Muskeln zu sehen. Sie liebte dieses Gefühl. Sie fühlte sich stark – als könnte sie die Welt auf ihren Rücken heben, als gäbe es nichts, wozu sie nicht in der Lage wäre. So ungern sie es auch zugab – und sie würde eher sterben, als Giselle davon zu erzählen: Das Leben als Shadowblade war ein größeres Hochgefühl als alles, was sie sich sonst vorstellen konnte. Es war besser, als das weiche, schwache Menschenmädchen zu sein, das sie vorher gewesen war. Jetzt war sie schnell, stark und gewandt. Sie ging durchs Leben und fürchtete sich vor nichts – nicht vor Achterbahnen, nicht davor, aus einem Flugzeug zu springen, nicht vor dem großen, bösen Monster im Wandschrank oder unterm Bett. Sie war Monstern begegnet. Sie hatte welche getötet. Sie war eine Jägerin und musste sich niemals hilflos in die Ecke kauern – wenn sie das ohne Giselle hätte haben können und ohne die Schrecken, die damit einhergingen, dieser Hexenschlampe zu dienen, dann hätte Max sich nie wieder etwas anderes gewünscht. Es wäre wie Weihnachten und Geburtstag auf einmal gewesen.
Sie legte den ansteigenden Weg schnell zurück und hielt dann und wann inne, um die Luft zu kosten und zu lauschen. Nach etwa einer Meile witterte sie zum ersten Mal Blut. Sie blieb stehen und ging neben einem knorrigen Baumstumpf in die Hocke. Der Kupfergeruch verriet, dass es sich um Menschenblut handelte, und zwar um viel davon. Genug, um den Magiegestank zu durchdringen. Aber es war auch Unheimlichen-Blut dabei. Heiß und ätzend kitzelte der Geruch sie hinten am Gaumen. Sie konnte ihn nicht genau zuordnen. Eine unbestimmte Wut stieg brennend in ihr auf, und sie verzog das Gesicht. Unvermittelt rannte sie los. Vielleicht lebte noch jemand. Giselle konnte sich geirrt haben.
Eine Meile weiter erreichte sie eine Anhöhe. Zwischen den Bäumen konnte sie eine Gruppe von Gebäuden auf einem Hügel jenseits des Obsthains ausmachen. Selbst von hier aus sah sie das lavendelfarben flackernde Hexenfeuer. Der Blutgeruch wurde stärker, und da war noch etwas anderes – etwas Nasses, Kaltes und Trostloses, wie ein Winterwind über einem zugefrorenen See. Etwas Göttliches.
Max schlich sich näher heran und blieb dabei dicht bei den Bäumen. Alle dreißig Meter hielt sie inne, schaute sich um und lauschte, aber es war nichts zu entdecken. Alles war still, mit Ausnahme der Hunde, die in einiger Entfernung bellten. Sie gaben keine Ruhe. Hunde erkannten den Gestank von Magie, wenn sie ihn rochen.
Sie spürte, dass eine Chaoszone vor ihr lag. Früher waren sie als Feenkreise bezeichnet worden, aber Chaoszonen wurden nicht nur von Feen verursacht. Es handelte sich um Orte, an denen die Magie explosionsartig außer Kontrolle geraten war. Vielleicht war ein Zauber missglückt, vielleicht hatte ein Bannkreis das beschworene Wesen nicht halten können, oder vielleicht war ein Ritual danebengegangen. Es würde erst wieder sicher sein, wenn die Magie sich verflüchtigt hatte. Das konnte ein paar Sekunden dauern. Oder ein paar Jahrhunderte.
Ohne zu zögern, betrat Max die Zone. Die Schutzzauber, die Giselle ihr in Knochen und Fleisch geritzt hatte, bewahrten sie in den meisten Fällen vor schädlicher Magie. Ein bisschen wilde Magie würde ihr lediglich den Kopf freipusten.
In der Zone gab es keine natürlichen Laute. Keine Vögel, keine Grillen, keine Mücken, nichts. Das Hundebellen verstummte so rasch, wie eine Geburtstagskerze gelöscht wird. Dornige magische Strömungen wanden sich durch die warme, unbewegte Luft. Max zuckte zusammen, als ein hoher, kreischender Laut ihren Schädel umfing und Schmerz durch ihre Nervenbahnen jagte. Sie schüttelte den Kopf und rannte gebückt weiter. Als sie den Rand des Hains erreichte, ließ sie sich fallen, kroch unter einen Traktor und verbarg sich im Schatten eines riesigen Reifens.
Ein Nimbus lavendelfarbenen Hexenfeuers umgab ein zweistöckiges Farmhaus mit rotem Stahldach. Eine weiße Kiesauffahrt führte zwischen hohen Walnussbäumen mit glatter Borke hindurch. Der Weg verlief kreisförmig um das Haus und umschloss eine kurzgemähte Rasenfläche, die hier und da mit Büschen und Blumen bepflanzt war und auf der ein großer Pavillon voller Kletterrosen und Weinranken stand. Dahinter befand sich eine scheunenartige Garage mit einem zum Haupthaus passenden roten Stahldach, die groß genug für sechs Autos zu sein schien. Auf der anderen Seite des Hauses entdeckte
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