Shadowblade: Dunkle Fesseln: Roman (Knaur HC) (German Edition)
Kapitel1
M ax’ Telefon klingelte. Es läutete in einer so hohen Tonlage, dass die meisten Menschen es nicht hören konnten. Aber das Menschsein gehörte schon seit 1979 nicht mehr zu Max’ Problemen. Sie beäugte ihr Handy und nahm es dann widerstrebend vom Armaturenbrett. Das Display zeigte an, dass die Anruferin Giselle war. Sofort spannte Max sich an. Die Zen-mäßige innere Ruhe, die sie während der langen Fahrt vom Sitz ihres Zirkels in Montana zusammengekratzt hatte, war schlagartig zerstört. Mit einem Mal überrollte die verfluchte Wirklichkeit sie wie ein Scheißtsunami.
Sie holte tief Atem. Ihre Lunge fühlte sich an wie aus Stein. Langsam atmete sie aus und klappte das Telefon auf. »Ja?«
»Wo bist du?«
Max verzog das Gesicht. Allein die Stimme der Hexe ließ bereits einen vertrauten Hass in ihrem tiefsten Innern aufflammen. Wie ein bodenloser Vulkankrater. Sie schluckte die kochende Wut herunter und ließ sich den bitteren Geschmack mit grimmiger Zufriedenheit auf der Zunge zergehen. Sie gab dem Gefühl Nahrung, wie einem Lagerfeuer. Es gehörte ihr – es war das Einzige, das ihr gehörte, und diese Hexenschlampe konnte es ihr nicht wegnehmen. »Ich fahre gerade nach Barstow rein. Wieso?«
»Ich möchte, dass du dir einen hässlichen kleinen Mord in der Nähe von Julian ansiehst. Die Sache riecht nach dem Unheimlichen und nach dem Göttlichen.«
»Glaubst du nicht, dass das ein bisschen blöd wäre? Ich kann mich nicht einfach auf dem Gebiet einer anderen Hexe rumtreiben. Wenn ich geschnappt werde, könnte das Krieg bedeuten. Bist du dafür bereit?«
Giselle zögerte nicht. »Das Risiko muss ich eingehen. Die Vision war …«
Sie brach ab, und Max fragte sich, was die Hexe zurückhielt.
»Es war zu mächtig, um es zu ignorieren«, fuhr Giselle fort. »Ich muss erfahren, was dort vor sich geht. Schau dich einfach nur um und verschwinde wieder.« Sie stieß einen gequälten Seufzer aus. »Und, Max, eigentlich sollte ich dich nicht daran erinnern müssen: Lass dich nicht mit Absicht versehentlich von jemandem sehen.«
»Warum sollte ich das tun?«, antwortete Max übertrieben unschuldig. »Das könnte ich sowieso nicht. Du hast mich doch mit Bannzaubern deinem Willen unterworfen. Und die würden in jedem Fall verhindern, dass ich etwas tue, was dir nicht passt, oder?« Obwohl es Möglichkeiten gab, sich diesen Zaubern zu entziehen. Und Max war darin zur Expertin geworden. »Außerdem weißt du, wie ich für dich empfinde. Dein Wunsch ist mir von ganzem Herzen Befehl.«
Giselle schwieg vielsagend für einige Sekunden. »Dann wünsche ich mir, dass du mir nicht mehr so auf die Nerven fällst. Hör auf, alles zu sabotieren, was ich mache. Diese Sache hier ist wichtig, Max. Versau sie nicht.«
Die Anspannung in Giselles Tonfall löste mehrere Warnsirenen in Max’ Kopf aus. Es war, als wäre ein Schalter umgelegt worden, als die Bannzauber das Kommando übernahmen. Ihre Wut kühlte sofort ab, und all ihre magisch verstärkten Sinne wurden in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Sie straffte sich. Zumindest eines konnte man über Giselle sagen: Diese Hexenschlampe wurde nie nervös. Soweit Max wusste, besaß sie nicht einmal die dafür notwendigen Gene. Wie hatte diese Vision genau ausgesehen? Was für eine Art von Weltuntergang spielte sich in Julian ab?
Es hatte keinen Zweck, danach zu fragen. Giselle hätte es ihr längst erzählt, wenn sie das vorgehabt hätte. »Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«, fragte Max nunmehr in geschäftsmäßigem Tonfall, während sie dem Raubtier in ihrem Innern die Kontrolle übergab. Kalte Distanziertheit umfing sie wie eine Rüstung, und ihre Gedanken nahmen scharfe, klare Konturen an. Es war nicht so, dass sie nichts mehr fühlte. Sie wollte nur vermeiden, dass ihre Emotionen ihr bei dem, was sie vielleicht tun musste, in die Quere kamen. Sie schüttelte andeutungsweise den Kopf. Nein, eigentlich war es so, dass die Bannzauber es ihren Gefühlen nicht erlaubten, ihr in die Quere zu kommen. Doch ihre Gefühle konnten das, was Max zu tun hatte, erheblich schlimmer machen. Es war besser, zu Eis zu werden und sich später mit dem Tauwetter zu befassen. Sehr viel später.
»Nördlich der Stadt gibt es einen Obsthain«, sagte Giselle und unterbrach sie damit in ihren Gedanken. »Dort wird es geschehen.«
»Wird?«
»In ein paar Stunden. Es geschieht auf jeden Fall, du kannst nichts dagegen machen. Wir sehen uns morgen in San Diego.« Giselle
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