Shantaram
als ich auf der Straße zum Nariman Point an der Back Bay anhielt. Ich parkte das Motorrad neben einer Getränkebude, schloss es ab und warf dem Besitzer der Bude, einem Freund aus dem Slum, die Schlüssel zu. Mit dem Mond im Rücken spazierte ich den Fußweg neben dem sichelförmigen Strand entlang, an dem Fischer gerne ihre Boote reparierten und ihre Netze ausbesserten. An diesem Abend fand im Sassoon-Dock-Viertel ein Fest statt, und die meisten Leute hatten ihre Hütten und Unterkünfte verlassen, um daran teilzunehmen. Der Weg war fast menschenleer.
Und dann sah ich sie. Sie saß auf einem alten Fischerboot, das zur Hälfte im Sand begraben war. Nur der Bug und der vordere Teil der Bordwände ragten empor. Sie trug einen langen Salwar über weiten Hosen. Ihr Kinn ruhte auf den Knien, die sie mit den Armen umschlang, und sie starrte über das dunkle Wasser.
»Das mag ich so an dir«, sagte ich, als ich mich neben ihr auf dem Rand des alten Bootes niederließ.
»Hallo, Lin«, sagte sie und lächelte. Ihre grünen Augen waren so tief wie das Meer. »Schön, dich zu sehen. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«
»Deine Nachricht klang irgendwie … dringend. Und um ein Haar hätte ich sie gar nicht bekommen. Ich hatte echt Glück, dass ich Didier noch zufällig getroffen habe, bevor er zum Flughafen fuhr. Er hat sie mir ausgerichtet.«
»Glück wird einem zuteil, wenn das Schicksal nicht mehr warten will«, murmelte Karla.
»Du machst mich irre, Karla«, erwiderte ich lachend.
»Lieb gewordene Gewohnheiten gibt man ungern auf«, erwiderte sie grinsend. Ihr Blick streifte über mein Gesicht, als suche sie nach einem vertrauten Punkt auf einer Landkarte, und ihr Lächeln verblasste.
»Didier wird mir fehlen.«
»Mir auch«, murmelte ich; er war vermutlich schon in der Luft, unterwegs nach Italien. »Aber ich glaube, er wird nicht allzu lange wegbleiben.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich die Tierkreis-Georges als Wohnungssitter bei ihm einquartiert habe.«
»Uuuh!«, machte sie mit geschürzten Lippen und zog den Kopf ein.
»Genau. Wenn ihn das nicht baldigst wieder hierher bringt, können wir ihn aufgeben. Du weißt doch, wie er an dieser Wohnung hängt.«
Sie erwiderte nichts, sondern starrte mich eindringlich an.
»Khaled ist hier, in Indien«, sagte sie schließlich tonlos und beobachtete mich genau.
»Wo?«
»In Delhi – in der Nähe von Delhi, genauer gesagt.«
»Seit wann?«
»Der Bericht kam vor zwei Tagen. Ich habe ihn überprüfen lassen. Ich bin ziemlich sicher, dass es wirklich Khaled ist.«
»Was für ein Bericht?«
Sie blickte aufs Meer hinaus und seufzte tief.
»Jeet hat Zugang zu allen Nachrichtendiensten. Er hat diesen Bericht über einen neuen spirituellen Führer namens Khaled Ansari gefunden, der zu Fuß aus Afghanistan gekommen ist und überall Scharen von Anhängern findet. Ich hab Jeet gebeten, das für mich nachzuchecken. Seine Leute haben eine Personenbeschreibung geschickt. Sie passt.«
»Wow … Gott sei Dank … Gott sei Dank.«
»Ja, vielleicht«, murmelte sie. Eine Spur der vertrauten Verschmitztheit und Rätselhaftigkeit blitzte in ihren Augen auf.
»Und du bist wirklich sicher, dass er es ist?«
»Sicher genug, um selbst dorthin zu fahren«, antwortete sie und sah mich wieder an.
»Weißt du, wo er ist – jetzt grade, meine ich?«
»Nicht genau, aber ich meine zu wissen, wo er hin will.«
»Wohin?«
»Nach Varanasi. Dort lebte Khaderbhais Lehrer, Idriss. Er ist sehr alt, lehrt aber noch immer.«
»Khaderbhais Lehrer?«, wiederholte ich erstaunt. In all den zahllosen Stunden, in denen mir Khader seine Philosophie vermittelt hatte, hatte er diesen Namen nie erwähnt.
»Ja. Ich habe ihn einmal getroffen, ganz zu Anfang, als ich mit Khader nach Indien kam. Ich war … weiß nicht … ich hatte wohl so was wie einen Nervenzusammenbruch. Ich war in diesem Flugzeug nach Singapur. Ich wusste nicht mal mehr, wie ich da überhaupt rein gekommen war. Und ich bin zusammengeklappt – durchgedreht, irgendwie. Khader war auch in diesem Flugzeug, und er legte den Arm um mich. Ich hab ihm alles erzählt … einfach alles. Als Nächstes habe ich mich dann in dieser Höhle mit der riesigen Buddha-Statue wiedergefunden, und dann war da dieser Lehrer namens Idriss – Khaders Lehrer.«
Sie versank eine Weile in Erinnerungen, dann löste sie sich von ihren inneren Bildern und sprach weiter.
»Und ich glaube, dass Khaled zu ihm unterwegs ist – zu Idriss. Der alte Guru hat
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