Shantaram
Sri Lanka kommt. Jetzt ist sie eingetroffen.«
»Tut mir leid, Bruder, aber ich weiß wirklich nicht, was du meinst«, erwiderte ich möglichst behutsam, um es ihm nicht noch schwerer zu machen. »Erklär es mir einfach. Was für eine Botschaft?«
Abdullah führte eine kurze Unterredung mit Nasir auf Urdu. Der alte Mann nickte mehrmals und sagte dann etwas über Namen oder Namen, die nicht erwähnt werden sollten. Dann sah er mich mit einem warmen herzlichen Lächeln an.
»In dem Krieg auf Sri Lanka«, erklärte Abdullah, »kämpfen die Tamil Tigers gegen die Regierungsarmee. Die Tiger sind Hindus, die Singhalesen Buddhisten. Aber zwischen beiden Gruppen gibt es noch tamilische Muslime, die keine Waffen und keine Armee haben. Alle töten sie, niemand kämpft für sie. Sie brauchen Pässe und Geld. Wir werden ihnen helfen.«
»Khaderbhai«, warf Nasir ein, »hat Plan gemacht. Nur drei Männer. Abdullah und ich und ein Gora – du. Drei Männer. Wir gehen.«
Ich stand in Nasirs Schuld. Ich wusste, dass Nasir das niemals erwähnen würde und dass er es mir nicht nachtragen würde, wenn ich nicht mitkäme. Dafür hatten wir zu viel zusammen durchgemacht. Aber ich verdankte ihm mein Leben. Es würde mir schwerfallen, ihn zurückzuweisen. Und in diesem seltenen herzlichen Lächeln, das er mir gerade geschenkt hatte, lag noch etwas anderes – Weisheit vielleicht und Großzügigkeit. Es kam mir vor, als biete er mir nicht nur die Gelegenheit, mit ihm zu arbeiten und meine Schuld abzutragen. Er gab sich selbst die Schuld an Khaders Tod, doch er wusste, dass auch ich mich noch schuldig fühlte und mich schämte, weil ich nicht als Khaders »Amerikaner« an seiner Seite gestanden hatte, als er umkam. Er gibt mir eine Chance, dachte ich, als ich zwischen Abdullah und Nasir hin und her blickte. Er bietet mir eine Möglichkeit, diese Geschichte zu Ende zu führen.
»Wann würdet ihr denn aufbrechen? Ungefähr?«
»Bald«, antwortete Abdullah lächelnd. »In ein paar Monaten. Ich werde in Delhi sein. Ich schicke dir jemanden, wenn die Zeit gekommen ist. In zwei, drei Monaten, Lin, mein Bruder.«
Ich hörte ein Raunen in meinem Kopf wie ein geflüstertes Echo, Laute von Steinen, die über das stille Wasser eines Sees hüpfen: Killer … er ist ein Killer … tu es nicht … halt dich raus … hau ab … jetzt … Dieses Raunen hatte recht. Es sprach die Wahrheit. Und ich wünschte, ich könnte behaupten, dass ich länger als nur ein paar Herzschläge brauchte, um die Entscheidung zu treffen.
»In zwei, drei Monaten«, erwiderte ich und streckte Abdullah die Hand hin. Er schüttelte sie und nahm sie dann in beide Hände. Ich lächelte Nasir an und sagte: »Wir übernehmen Khaders Aufgabe. Wir erledigen sie.«
Nasir sah mich mit zusammengebissenen Zähnen an. Seine Wangenmuskeln traten hervor, und seine Mundwinkel zogen sich noch stärker nach unten als gewöhnlich. Dann betrachtete er mit gerunzelter Stirn seine Sandalen, als seien sie ungebärdige junge Hunde. Und danach stürzte er sich plötzlich auf mich und umarmte mich mit eisernem Griff. Es war die hilflos brutale Umarmung eines Mannes, dessen Körper nie gelernt hat, die Sprache seines Herzens zum Ausdruck zu bringen – außer beim Tanz – , und sie endete so abrupt und unvermittelt, wie sie begonnen hatte. Er riss seine massigen Arme von mir weg und stieß mich mit dem Brustkorb von sich, wobei er den Kopf schüttelte und schauderte, als habe er im Meer gerade einen Hai an sich vorüberziehen sehen. Dann blickte er rasch auf, und die Herzlichkeit in seinen geröteten Augen lag im Widerstreit mit seinem grimmig verzogenen Mund, der eine Warnung zu verkünden schien. Ich wusste, dass ich seine Freundschaft für immer verlieren würde, sollte ich es wagen, diesen Augenblick der Nähe jemals zu erwähnen.
Ich startete das Motorrad, stieg auf, stieß mich vom Bordstein ab und fuhr los, in Richtung Nana Chowk und Colaba.
»Saatch aur himmat«, rief Abdullah, als ich an ihnen vorüberkam.
Ich nickte und winkte ihnen zu, konnte mich aber nicht überwinden, die Parole zu erwidern, denn ich wusste nicht, wie viel Mut und Wahrheit tatsächlich in meiner Entscheidung lagen, die beiden bei ihrer Mission nach Sri Lanka zu begleiten. Von beidem nicht viel, vermutete ich, als ich davonfuhr, alles hinter mir ließ, mich der warmen Abendluft hingab und mich auf den wechselweise stockenden und fließenden Rhythmus des Verkehrs einstimmte.
Blutrot entstieg der Mond dem Meer,
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