Sherlock Holmes - Der Hund von Baskerville
erfahrenste Detektiv hilflos ist.«
»Sie meinen, es handele sich um etwas Übernatürliches?«
»Ich habe es nicht so ausgedrückt.«
»Nein, aber offensichtlich denken Sie so.«
»Mr. Holmes, seit jener tragischen Nacht kamen mir mehrere Vorfälle zu Ohren, die sich mit der
festgesetzten Ordnung der Natur nur schwer in Einklang bringen lassen«
»Zum Beispiel?«
»Bevor diese schreckliche Sache passierte, haben mehrere Leute auf dem Moor ein Geschöpf gesehen, das kein der Wissenschaft bekanntes Tier sein konnte, aber dem Dämon von Baskerville entspricht. Alle stimmten darin überein, daß es ein riesiges Wesen war, leuchtend, gräßlich und gespenstisch. Ich habe diese Leute ins Kreuzverhör genommen und eingehend befragt. Einer von ihnen war ein hartschädliger Landmann, der andere ein Hufschmied und der dritte ein Moorbauer. Alle erzählten die gleiche
Geschichte von einer fürchterlichen Erscheinung, die genau der Beschreibung des Höllenhundes aus der Sage entspricht. Ich kann Ihnen versichern, daß in der ganzen Gegend eine schreckliche Angst herrscht und kaum jemand wagt, nachts über das Moor zu gehen.«
»Und Sie, ein wissenschaftlich gebildeter Mann, glauben, daß es sich hier um etwas Übernatürliches handelt?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«
Holmes zuckte mit den Schultern.
»Bisher habe ich meine Nachforschungen auf diese Welt beschränkt«, sagte er. »Auf bescheidene Art habe ich dem Bösen die Stirn geboten, aber es nun mit dem Vater des Bösen selbst aufzunehmen, wäre vielleicht doch ein zu ehrgeiziges Unterfangen. Sie müssen mir wohl aber zugeben, daß eine Fußspur etwas Materielles ist und also nichts Übernatürliches an sich hat.«
»Der ursprüngliche Hund war immerhin so stofflich-materiell, daß er einem Menschen die Kehle
durchbiß, und doch war es ein Höllenhund.«
»Mir scheint, daß Sie ganz ins Lager des Supranaturalismus übergegangen sind. Nun verraten Sie mir aber eins, Dr. Mortimer: Wenn Sie sich zu solchen Ansichten bekennen, warum sind Sie dann auf die Idee gekommen, gerade mich zu konsultieren? Sie sagen mir in einem Atemzug, daß es zwecklos sei, Sir Charles' Tod zu untersuchen und daß Sie eine solche Untersuchung von mir wünschen.«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich es wünschte.«
»Wie kann ich Ihnen dann behilflich sein?«
»Indem Sie mir raten, was ich mit Sir Henry Baskerville machen soll, der« - Dr. Mortimer sah auf seine Uhr - »genau in ein und einer Viertelstunde auf dem Waterloo-Bahnhof eintrifft.«
»Er ist der Erbe?«
»Ja. Nach dem Tode von Sir Charles forschten wir nach dem jungen Herrn und fanden heraus, daß er in Kanada Farmer geworden war. Aus den uns zugegangenen Berichten ist zu entnehmen, daß es sich um einen in jeder Hinsicht ausgezeichneten Menschen handelt. Ich spreche jetzt nicht als Mediziner, sondern als Sir Charles' Treuhänder und Testamentsvollstrecker.«
»Es gibt sonst wohl niemand, nehme ich an, der Anspruch auf die Erbschaft erhebt?«
»Niemand. Der einzige andere Verwandte, den wir ausfindig machen konnten, war Rodger Baskerville, der jüngste der drei Brüder, von denen der arme Sir Charles der älteste war. Der zweite Bruder, der früh starb, ist der Vater dieses jungen Henry. Der dritte, Rodger, war das schwarze Schaf der Familie. Er war in seiner herrischen Art ein echter Baskerville und ganz das Ebenbild des alten Hugo auf dem
Familienporträt, wie man mir sagt. In England wurde ihm der Boden zu heiß, er floh nach Mittelamerika und starb dort 1876 am Gelbfieber. Henry ist der letzte der Baskervilles. In einer Stunde und fünf Minuten treffe ich ihn auf dem Waterloo-Bahnhof. Ich habe ein Telegramm erhalten, daß er heute morgen in Southampton ankommt. Nun, Mr. Holmes, was soll ich jetzt mit ihm anfangen? Wo soll er bleiben?
Was würden Sie mir raten?«
»Warum soll er nicht in das Haus seiner Väter ziehen?«
»Das scheint das Natürlichste, nicht wahr? Aber bedenken Sie, daß jeden Baskerville, der dorthin zurückkehrt, ein böses Geschick ereilt. Ich bin ganz sicher, daß Sir Charles, wenn er vor seinem Tod noch mit mir hätte sprechen können, mich gewarnt hätte, den letzten des alten Geschlechts und Erben des großen Vermögens an diesen Ort des Todes zu bringen. Und doch läßt sich nicht leugnen, daß der
Wohlstand des ganzen armseligen Landstrichs von seiner Anwesenheit abhängt. Alles Gute, das Sir Charles getan hat, geht wieder in Trümmer, wenn das Schloß keinen Bewohner
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