18 Gänsehaut Stories
Vorwort
»Gänsehaut (Cutis anserina), meist reflektorisch durch Kältereiz oder durch psychische Faktoren bewirkte Hautveränderung. Das knöcherige Aussehen der Haut wird durch Zusammenziehung der an den Haarbälgen ansetzenden glatten Muskeln (Musculi arrectores pilorum) verursacht, die die Haarbälge hervortreten lassen und die Haare aufrichten.« Wer in »Meyers Enzyklopädischem Lexikon« unter dem Stichwort Gänsehaut nachliest, erfährt per definitionem und in lexikalischer Gedrängtheit, was sich unter physiologischem Aspekt über das Phänomen Gänsehaut sagen läßt. Über die »psychischen Faktoren«, von denen immerhin die Rede ist, schweigt sich der »Meyer« aus.
Auch die Etymologen speisen den Ratsuchenden lediglich mit einem spröden Hinweis ab, nämlich damit, daß seit dem 16. Jahrhundert »vor Schreck oder Kälte schaudernde menschliche Haut« nach der Ähnlichkeit mit der Haut einer gerupften Gans »Gänsehaut« genannt werde. Der Schreck ist also dafür verantwortlich, wenn sich die Haare sträuben, kalte Schauer über den Rücken jagen und unser zarter Teint an die Haut einer gerupften Gans erinnert. Andere psychische Faktoren rufen die gleiche Wirkung hervor: Angst, Furcht, Grauen, das Unfaßliche und Unerklärbare, Gespenstische und Makabre, alles, was in unserer Seele traumatisch weiterlebt und von dem seit Urzeiten eine seltsame Faszination ausgeht. Nach wie vor ist das Interesse am Unheimlichen und Phantastischen lebendig, auch und gerade in der Kunst, in der Literatur. Dieses Unheimliche und Phantastische, wie es uns in den ausgewählten Geschichten begegnet, bedarf keiner Legitimation von außen, es entsteht in den Tiefen des Inneren, des Unbewußten, es ist an keine Grenzen gebunden, darin dem Traum verwandt, der eigenen Gesetzen gehorcht, ein zweckfreies Spiel in imaginären Bereichen, das uns mit lustvollen Schauern ergötzt und jene Gruseleffekte stimuliert, die unsere Hautbeschaffenheit auf so fatale Weise verändern.
Freud schrieb, das Unheimliche sei etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das dem Menschen nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist. Nun, in unseren Geschichten ist dieser Verdrängungsprozeß aufgehoben: Aus den dunklen Schächten des Unbewußten treten die schmählich verdrängten Lemuren und Schimären in das helle Licht literarischer Gestaltung, phantastische, janusgesichtige Wesen, die in amorphen Formen aus den Alpträumen ihrer Schöpfer hervorgewachsen sind. Denn das Unheimliche mit all seinen irrealen Begleiterscheinungen bildet das tragende Fundament dieser Geschichten. Es lauert in den Schatten einsamer Nächte, im flüsternden Schweigen leerer Häuser, in den verborgenen Ecken finsterer Orte, im Modergeruch alter Grabstätten. Und es lebt im bangen Schlag unseres Herzens, in den verschütteten Abgründen unserer Psyche.
In einer Welt ohne Wunder gewinnt das Wunderbare wieder seine ursprüngliche Macht zurück; wo sich scheinbar alles rational erklären läßt, tritt das Unklärbare, Irrationale wieder in sein Recht, bedrohlich und erschreckend, aber auch befreiend und über die plane Realität triumphierend. Für die phantastische Literatur gilt, was Wieland Schmied über die phantastische Kunst im allgemeinen gesagt hat: »Das Phantastische kann traumhaft oder errechnet erscheinen, visionär oder surreal, als Nähe fremder Welten oder als Fremdsein des Nächsten, bei aller Traumhaftigkeit, Irrealität oder Verfremdung muß es erlebbar bleiben, um uns zu betreffen und uns erschrecken
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