Sich vom Schmerz befreien
überhaupt, wird ein Schmerzpatient oft jahrelang immer wieder operiert, erhält Unmengen an Medikamenten und physiotherapeutische Behandlungen, ehe er einen Schmerzpsychologen trifft. Natürlich gibt
es immer mehr Einrichtungen, in denen »ganzheitlich« gearbeitet wird. »Psychosomatische Medizin«, »Verhaltensmedizin« oder »Medizinische Rehabilitation« stehen für die Zusammenarbeit einer »Maschinenmedizin« mit einer »Maschinenpsychologie«. Dabei kümmert sich jeder Arzt und Therapeut jeder Fachrichtung um den Teil der »Maschine« Organismus, für den er zuständig ist, damit man - bildhaft gesprochen - die reparierten Einzelteile später zusammensetzen kann und sie wieder funktionieren. »Ganzheitlichkeit« ist hier also ein Nebeneinander mehrerer Behandlungen, oft genug ohne aufeinander Bezug zu nehmen.
Doch es sind Veränderungen in Sicht: Weil man die Vorgänge immer genauer kennt und dabei mittlerweile bei den bio-elektrischen und ihrer Steuerung durch Gehirn und Nervensystem angelangt ist, setzt die moderne Medizin in ihrer Erklärung von Krankheiten inzwischen auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse. Man weià längst, dass es nicht ausreicht, die einzelnen Abläufe und ihre Ursachen zu erkennen und zu behandeln. Entscheidend für eine Krankheit und ihren Verlauf ist, wie diese Vorgänge miteinander in Beziehung stehen. Und da diese mit dem technischen Fortschritt immer besser erfasst und beobachtet werden können, ist auch immer genauer zu sagen, welche Kombination körperlicher und psychischer Prozesse zu welcher Krankheit führt.
Wissenschaftstheoretisch befinden wir uns hier in der »Systemtheorie« - ein Ansatz, der folgendermaÃen charakterisiert werden kann: Um eine Krankheit zu verstehen und behandeln zu können, muss man nicht nur die Defekte in der »Maschine« Organismus genau kennen, sondern auch wissen, wie sie zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen. Anders ausgedrückt: wie sich der Körper auf die Psyche und rückwirkend wieder auf den Körper auswirkt, wie subjektive Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle die objektiven Prozesse im Körper verändern. Der wichtigste und für uns und unser naturwissenschaftlich
geprägtes Denken völlig ungewohnte Aspekt ist dabei die »Zirkularität«. Hier heiÃt es nicht mehr nur: »wenn A (Ursache), dann B (Krankheit)« - mit der Konsequenz, alle Ursachen zu identifizieren und mit ihnen die Krankheit zu beseitigen. Zirkulär berücksichtigt, dass B wiederum Auswirkungen auf A hat und sich somit selbst beeinflusst. Ein Beispiel, das uns in diesem Buch noch öfters begegnen wird: Muskuläre Verspannungen (A) im Zusammenhang mit einer körperlichen Belastung führen zu Schmerzen (B). Diese wiederum vergröÃern die Muskelspannung und damit den Schmerz.
Zahlreiche Theorien erklären, wie das Zusammenspiel der einzelnen Bereiche des Nervensystems gesteuert wird. Man postuliert genetisch bedingte oder im Laufe des Lebens entstandene »Verschaltungen« sowie durch sie gesteuerte »Programme«. »Feedback-« und »Selbstregulationsprozesse« sorgen dafür, dass alles »im Gleichgewicht« verläuft. Zirkularität ist entscheidend dafür verantwortlich, wenn Funktionen des lebenden Organismus aus dem Gleichgewicht geraten und komplexe und chronische körperliche und psychische Krankheiten entstehen. Mit diesem systemischen Denken, so wird argumentiert, wurde auch für die Medizin ein neues Weltbild geschaffen. Das sich ständig erweiternde Wissen eröffnet neue Behandlungsmöglichkeiten, um die Funktionen wieder ins Gleichgewicht und die »Maschine« zum Laufen zu bringen. Zu ihnen gehören, wie erwähnt, auch immer mehr »alternative« Methoden.
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Der systemtheoretische Ansatz steht also für eine Ãberwindung der naturwissenschaftlichen Medizin. Doch wenn der Wandel in einigen Bereichen auch schon weiter ist als in anderen, so hinkt doch überall die Praxis der Theorie weit hinterher. Sie findet im medizinischen Alltag keinen Boden. Selbst wenn es vor allem von Seiten der Psychologie viel versprechende
Methoden gibt - unsere Medizin bleibt eine »Maschinenmedizin«. Zur Behandlung von Schmerzen ist über weite Strecken sogar immer noch die ausschlieÃende Denkweise im Sinne von »entweder (körperlich) - oder (psychisch) verankert. Dabei
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