Brenda Joyce
Kapitel 1
SAMSTAG, 18. JANUAR 1902 – 20 UHR
Francesca
Cahill saß mit dem Waterman-Füllfederhalter in der Hand an ihrem Schreibtisch.
Das elektrische Licht, das beim Bau des Hauses vor acht Jahren installiert
worden war, ergoss sich über das Pergamentpapier, auf dem sie schrieb. Draußen
schneite es heftig, und in dem dunkelgrünen Marmorkamin prasselte ein Feuer.
Plötzlich ertönte ein Klopfen an der Tür. Francesca erstarrte unwillkürlich,
denn sie kannte dieses Klopfen nur zu gut. Sie fühlte sich wie ein Dieb, der
beim Griff in den Banktresor erwischt worden war.
Ihre Schwester wartete gar nicht erst ab, bis
sie aufgefordert wurde, einzutreten, sondern kam sogleich in Francescas großes,
wunderschön eingerichtetes Zimmer gestürmt. »Du bist ja noch nicht einmal
umgezogen!«, rief Connie vorwurfsvoll, wobei sie so große Augen machte, dass
es schon fast komisch anmutete.
Francesca sprang auf, um Connie damit den
Blick auf den Schreibtisch zu nehmen. Sie zwang sich zu einem Lächeln und warf
einen schuldbewussten Blick auf die Standuhr in der Ecke des Zimmers. Schon
acht Uhr? Die ersten Gäste mussten jeden Moment eintreffen oder befanden sich
vielleicht sogar schon im Haus. »Tut mir Leid«, sagte Francesca und bemühte
sich vergeblich, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen.
Verflixt! Am Montagmorgen hatte sie eine Biologieprüfung und noch nicht einmal
mit dem Lernen begonnen. Sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich ihrem
neuesten Unterfangen zu widmen, und nun bliebe ihr keine Zeit mehr für eine
vernünftige Vorbereitung auf die Prüfung.
Aber der Tag hatte nie genug Stunden für all die Dinge, die zu tun
waren. Es war ja so frustrierend!
Connie trat mit einem verzweifelten Ausdruck
in den Augen auf ihre Schwester zu. Sie trug ein blassrosafarbenes Abendkleid
und hatte das blonde Haar zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmt. An ihren Ohren
baumelten kleine Diamanten, und eine Halskette aus Diamanten und Rubinen zierte
ihr Dekolletee. Sie war eine ausgesprochen schöne Frau. »Fran, wie konntest du
nur?«, fragte sie mit flehentlicher Stimme. »Du weißt doch, was Mama heute
Abend mit dir vorhat. Sie hat dich gebeten, dich nicht zu verspäten, und du
hast es ihr versprochen. Ich habe alles mit angehört.« Connie schüttelte den
Kopf.
Francesca blieb mit dem Rücken zu ihrem
Schreibtisch stehen und blickte zu Boden. Sie hatte ihrer Mutter wirklich
versprochen, sich nicht zu verspäten, sich anständig zu kleiden und von ihrer
besten Seite zu zeigen. Doch sie hatte jetzt keine Lust, mit ihrer älteren
Schwester zu streiten, auch wenn diese es gut mit ihr meinte. Sie blickte auf und
lächelte Connie betont freundlich an. »Ich habe Briefe geschrieben und darüber
die Zeit vergessen«, sagte sie und kreuzte dabei die Finger ihrer rechten Hand
hinter dem Rücken. Im Stillen entschuldigte sie sich für die kleine Notlüge.
»Das glaube ich dir nicht«, erwiderte Connie,
marschierte kurzerhand an Francesca vorbei und hob das
Pergamentblatt auf, an dem diese gearbeitet hatte, wobei sie die Protestrufe
der Jüngeren einfach ignorierte. »Und was ist das?«, fragte sie vorwurfsvoll.
Während sie den Text las, sprach Francesca in Gedanken die Worte mit, die sie
einhundert Mal so sorgfältig niedergeschrieben hatte.
Die nächste Zusammenkunft
der Damengesellschaft zur Abschaffung der Mietshäuser
findet am Samstag, den 25. Januar, um 15:00 Uhr
in der Bibliothek des Waldorf-Astoria-Hotels statt.
Weitere Auskünfte erteilt Miss Francesca Cahill,
810 Fifth Avenue.
Francesca
verschränkte die Arme. »Connie, du weißt genauso gut wie ich, dass diese
Mietshäuser eine Schande für die Stadt sind – eine Schande für dich und mich«,
sagte sie voller Inbrunst.
Connie zog ihre Augenbrauen kritisch in die
Höhe, ohne dass dies ihre umwerfende Schönheit auch nur im Mindesten
geschmälert hätte. »Du bist eine exzentrische Person, Francesca Cahill, so viel
steht fest, und auch, dass du mal wieder viel zu spät dran bist und Mama am
Ende doch ihren Willen bekommen wird, ganz gleich, was du auch anstellen
magst.« Sie packte Francescas Arm und zerrte sie ans Fenster. »Schau nur!«,
rief sie.
Francescas Zimmer befand sich im ersten Stock der vierstöckigen
Villa auf der Fifth Avenue. Die Samtvorhänge am Fenster waren zurückgezogen,
und die Schwestern blickten hinaus in den Schnee. Die Flocken tanzten wie
winzige Punkte aus strahlend weißem Licht durch die Nacht. Die Rasenflächen und
Pappeln vor
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