Sichelmond
allem konnte er nicht mehr schlafen. Zu groß war die Angst, wieder in einer fremden Wohnung zu erwachen. Und wenn er ehrlich zu sich war, dann war auch die Angst vor den Antworten zu seinen Fragen übermächtig.
Seine Beine zitterten bereits vor Ermüdung. Es mussten bereits einige Stunden gewesen sein, die er heute grübelnd durch die Straßen der Stadt gezogen war.
An einer Bushaltestelle ließ er sich auf der schmutzigen Holzbank nieder. Die Müdigkeit war nun in allen Poren spürbar. Sein Kopf war schwer, und seine Augen fühlten sich an, als ob sie ihm aus dem Gesicht fallen wollten. Rouven hatte nur noch einen Wunsch: Schlafen.
Schon lehnte er den Kopf gegen die Wand der Bushaltestelle. Er wollte nicht einschlafen. Nicht hier.
Nicht jetzt.
Doch seine Augenlider senkten sich gegen seinen Willen. Und mit einem letzten Blick auf den kleinen Jungen, der ihm an der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite gegenübersaß, schloss er die Augen.
Doch es war nicht der Schlaf, der ihn überkam. Ganz im Gegenteil. Reines Adrenalin schoss ihm plötzlich durch die Adern. Seine Instinkte schlugen Alarm. Mit einem Mal spürte Rouven, dass etwas nicht stimmte. Wie ein wildes Tier im Dschungel witterte er, dass er sich unmittelbar in Gefahr befand.
Aber warum?
Er hielt die Augen geschlossen und rief sich das Bild des Jungen wieder ins Gedächtnis. Netter kleiner Kerl. Etwa zehn Jahre alt. Sympathisch. Wieder einer der vielen Menschen, mit denen Rouven sofort sein Leben getauscht hätte, auch wenn es nur ein Kind war.
Von dem Jungen ging bestimmt keine Gefahr aus. Rouven erinnerte sich an weitere Details, die er nur verschwommen wahrgenommen hatte, bevor sich seine Augen geschlossen hatten – die Mutter neben dem Jungen. Sie hatte die Schultasche des Kleinen in den Händen gehalten und Rouven gar nicht beachtet. Sonst war die Bank leer gewesen.
Dann fiel es ihm ein. Hinter dem Jungen und seiner Mutter hatte Rouven unbewusst zwei Männer bemerkt, die ihn aus den Augenwinkeln fixiert und dabei diese typischen unverdächtigen Gesichtsausdrücke aufgelegt hatten. Rouven kannte diese Blicke. Bloß nicht auffallen. Bloß nicht den anderen merken lassen, dass man ihn beobachtete.
Doch genau das fiel Rouven immer auf. Er war im Visier der beiden Männer. Warum, das wusste er nicht. Doch es war Zeit zu flüchten.
Jetzt erst schlug er die Augen auf. Der Junge saß noch immer mit seiner Mutter auf der Bank. Inzwischen schaute auch sie zu Rouven hinüber. Ebenso der Junge. Die beiden Männer waren verschwunden.
Deshalb hatte Rouven auch die Augen nicht geöffnet. Diese Technik hatte er sich im Lauf der Zeit angeeignet. Er konnte Details aus dem Gedächtnis heraus erkennen. Manchmal besser, als wenn er direkt auf etwas starrte. Er war sicher, dass ihm die beiden Männer nicht aufgefallen wären, wenn er einfach nur weiter auf die andere Straßenseite gesehen hätte. Sein Gehirn arbeitete auf diese Art.
Der Blick der Mutter und ihres Sohnes jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Wieso sahen sie ihn mit diesem Entsetzen an?
Und wo waren die beiden Männer jetzt?
Rouven drehte seinen Kopf nach rechts. Dort, hinter einer Gruppe Passanten, kam einer der beiden auf ihn zu. Mit auffallend roten Turnschuhen eilte er über den Asphalt.
Ohne Hektik, sondern mit bewundernswerter Ruhe drehte Rouven den Kopf nach links und entdeckte auch schon den zweiten Mann. Er hatte einen Finger an seinem Ohr und sprach. Es war eindeutig: Die Männer waren mit Mikrofonen ausgestattet und hatten es augenscheinlich auf Rouven abgesehen. Es war an der Zeit für ihn zu verschwinden.
Gerade wollte Rouven sich von seinem Platz erheben, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Etwas, das plötzlich wichtiger für ihn war als seine Flucht. Etwas, das ihm die Situation schlagartig erklärte. Sein Blick fiel auf die Zeitung, die der Mann neben ihm gerade las. Rouven starrte fassungslos auf die Titelseite. Auf das riesige Foto, das ihn zeigte. Ein Schwarzweißbild, unter dem die Schlagzeile zu lesen war: » Erstes Foto des Neumond-Täters – aufgenommen vom Sicherheitssystem des verschwundenen Ehepaares. « Das Bild zeigte Rouven beim Verlassen der Wohnung vor einigen Tagen. Es war gestochen scharf. Es prangte so riesig auf der Titelseite, dass selbst die Mutter mit ihrem Sohn von der anderen Straßenseite aus Rouven darauf erkannt hatte.
Rouven riss sich von der Zeitung los, obwohl er darauf brannte, den Artikel zu lesen. Doch noch immer
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