So finster, so kalt
wusste sicher, was sie da machen musste. Merle kannte das Häuschen genauso lange, wie Papa alt war, oder noch länger.
»Papa, dürfen wir schon vorlaufen?«
»Meinetwegen. Auf der Lichtung haben wir euch im Blick. Aber nicht klopfen, bevor wir da sind.«
»Geht klar.«
Gemeinsam liefen die Mädchen los.
»Schau!«, rief Marie. Die puschelige schwarz-weiße Katze jagte auf dem Weg ein paar im Wind kreisenden Blättern hinterher. Merle hatte gestern unterwegs erzählt, dass sie sie in Jorinde umgetauft hatte. Als die Katze die beiden Mädchen bemerkte, fauchte sie entsetzt und rettete sich mit einem Sprung unter die Bank davor, umgerannt zu werden.
Schlitternd kamen die Mädchen zum Stehen, ließen einander los, und Marie langte nach der Katze. Die warf sich sofort auf den Rücken und tatzte mit ihren Vorderpfoten nach der Hand des Kindes. Marie quiekte erschreckt auf, aber Ronja wusste, dass Jorinde ihre Krallen eingefahren hatte. Ihre Aufmerksamkeit wurde von dem Holzbrett auf der Bank gefesselt. Oder vielmehr von dem, was darauf lag. Aufgeregt stieß sie Marie an.
»Guck mal, Merle hat Lebkuchenmännlein gebacken!«
Marie reckte sich und bekam große Augen. »Das sind eins, zwei … bestimmt hunderttausend für jeden!«
Ronja rollte mit den Augen über diese kindliche Unwissenheit. »Zehn für dich und zehn für mich!« Ganz kurz hatte sie überlegt, Marie übers Ohr zu hauen und ihr weniger zuzugestehen, aber dann siegte ihr Gerechtigkeitssinn.
»Aber da, hast du das gesehen?« Ronja nahm einen Lebkuchen hoch und hielt ihn der Jüngeren vor die Nase.
Diese beäugte ihn kritisch. »Da fehlt Zuckerguss!«
»Ja, aber guck mal. Das ist ein Rock! Das ist ein Lebkuchenfräulein.«
Das war bestimmt ein Experiment, das Merle sich ausgedacht hatte. Oma Mago hatte immer nur Lebkuchenmännlein gebacken.
»Stimmt.« Marie nickte eifrig. »Meinst du, wir dürfen die essen? Ob die anders schmecken?«
»Oma Mago hat immer gesagt, dass alle Kinder, die hierherkommen, allen Lebkuchen essen dürfen, den sie finden. Was Oma Mago gesagt hat, gilt. Ich kenne sogar das Geheimversteck. Vielleicht hat Merle da schon wieder etwas reingelegt.«
»Oh, zeig’s mir!«
»Gleich. Lass uns erst das Lebkuchenfräulein probieren.«
Ronja brach den Lebkuchen in zwei fast gleich große Teile und gab Marie den größeren. Das war nicht so gönnerhaft, wie es aussah. Sie wollte einfach den Kopf nicht essen. Irgendwie hatte sie ein komisches Gefühl.
Marie biss sofort hinein und kaute zufrieden.
»Und?« Ronja biss in ihre Hälfte.
»Lecker!«
»Ich finde, es schmeckt nach … Metall.«
»Ich finde es lecker. Du kannst es mir geben.«
»Hier.« Ronja hielt Marie den Lebkuchen hin und würgte ihren Bissen hinunter. Sie schaute hinauf zu den Holzschindeln, die manchmal von ferne wie Lebkuchen wirkten. Was würde aus dem Knusperhäuschen werden? Schließlich war die Hexe tot … oder?
Die Geschichte hinter der Geschichte
Es war einmal eine Autorin, die sich auf die Suche nach einem fantastischen Thema für ihr zweites Buch machte. So begab es sich an einem Sonntagvormittag im November 2012 , dass sie mit ihrer Agentin Julia Abrahams in ihrer Küche saß und über Märchen sinnierte. Ein gütiges Schicksal schickte zwei Tage später einen dichten trüben Nebel über die niederrheinischen Rübenäcker. Und als sich beim Morgenspaziergang der weiß-graue Australian Shepherd der Autorin aus ebenjenem Nebel materialisierte, nahm nicht nur der Hund, sondern auch die Idee Gestalt an. Das heißt, am Anfang war der Wolf …
Es hat sicherlich auch eine Rolle gespielt, dass ich zu der Zeit mit Begeisterung Bill Willinghams Graphik-Novel-Serie »Fables« gelesen habe, in der der einstmals böse Wolf der Sheriff der Märchenfiguren-Community ist, die nach der Flucht aus ihren Märchenwelten im New York des einundzwanzigsten Jahrhunderts lebt. Hänsel ist dagegen ein gnadenloser Hexenjäger und Inquisitor. Wer noch nicht genug von Märchen-Neufassungen hat, dem lege ich diese Serie sehr ans Herz. Mir ist sie von meinem Freund Sven empfohlen worden, dem ich dafür herzlich danke.
Damit komme ich zu denen, die ihren Teil zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben und denen ich ebenfalls danken möchte: meiner Agentin Julia Abrahams und Martina Wielenberg von Droemer Knaur, die besonders in der Startphase intensiv mitgedacht haben. Dann Momo Evers, die mit mir für das Lektorat eifrig an diesem Werk herumgeknuspert und viele
Weitere Kostenlose Bücher