So finster, so kalt
rüttelte an der Tür zur Scheune. Sie ließ sich ohne Widerstand öffnen. Dahinter sah alles noch genauso aus wie tags zuvor. Überall war das Holz verstreut, das auf Felix Sturm hinabgeregnet war. Merle musste es nur in die Stube schleppen.
Immer drei bis fünf Scheite auf einmal tragend, lief sie rasch hin und her, stapelte ihre Last ordentlich in die Esse und anschließend darum herum. Nach dem siebten Gang fand Merle, dass es genug war. Sie war erschöpft und hatte das gute Gefühl, etwas getan zu haben. Trotzdem war ihr nicht nach Schlaf. Gedankenverloren ging sie ans Fenster und starrte auf die Lichtung.
Da trat Greta aus dem Wald, ganz als ob sie darauf gewartet hätte, dass Merle ihr zusah. Genau wie bei dem Reh waren die Konturen ihrer Gestalt verschwommen, als wären sie soeben im Begriff, sich aufzulösen. Ihre Erscheinung wechselte im Takt von Merles Herzschlag. Mal war Greta ein kleines Mädchen in altertümlicher Kleidung, dann wieder erschien sie als Reh. Dazwischen war sie Nebel und Grauen. Merle rieb nervös die Finger aneinander und hatte Mühe, aufrecht stehen zubleiben, so weich wurden ihre Knie. Sie klammerte sich an den Fensterrahmen und lehnte den Kopf gegen das alte Holz. Sie glaubte eine brüchige Stimme zu hören, die ihr Mut zusprach. Das Haus bot ihr Schutz. Es spielte keine Rolle, ob die Türen und Fenster verschlossen waren. Es war das Haus selbst. Seine gute Seele schützte sie vor dem dämonischen Wesen.
Merle starrte aus dem Fenster. Mit fasziniertem Entsetzen beobachtete sie, wie das Wesen über die Wiese kroch. Es war gleichzeitig wabernder Nebel und kriechendes Mädchen. Dann brach es an einer Stelle zusammen. Der Nebel verschwand, und nur ein Haufen alter Knochen lag dort vor dem Haus im Gras.
Merle wusste nicht, wie lange sie noch dastand und auf den Knochenhaufen glotzte.
Luzi huschte in die Stube und gesellte sich zu ihr auf das Fensterbrett. Die Katze bewegte ihren Kopf unablässig hin und her, während sie aufmerksam nach draußen starrte und dabei leise gurrte und schmatzte. Ihr leicht gesträubter Schwanz pendelte im gleichen Rhythmus. Sie jagte in Gedanken. Aber was jagte Luzi gerade jetzt? Was halfen die Katzen?
Merle wartete. Normalerweise müsste doch jetzt der Held kommen und die Prinzessin vor dem bösen Monster retten. Aber bitte auf einem großen Schimmel und in Ritterrüstung. Das Problem war gerade nur, dass ihr Held in derselben Falle steckte wie sie.
Sie streichelte der Katze beiläufig das samtschwarze Fell. Das Tier war so angespannt, dass Merle beinahe Funken erwartete, die aus dem Fell schlagen würden. Der Knochenhaufen lag unverändert. Merle schnaubte wütend. Was erwartete Greta? Dass sie so dämlich war, hinauszugehen und zu sehen, was es mit dem Knochenhaufen auf sich hatte? Das würde sie natürlich nicht tun! Figuren im Film waren manchmal so blöd. Vor allem die Frauen. Damit der Held sie noch heldiger und in noch letzterer Sekunde retten konnte. Aber in der Wirklichkeit gab es keine Helden. Nur Monster, die von einem keltischen Aberglauben in diese Zeit hinübergerettet worden waren. Greta konnte da draußen verrotten! Sie, Merle, jedenfalls würde sich nicht auf dieses alberne Spiel einlassen!
Luzi rieb den Kopf an ihrer Brust und schnurrte beruhigend.
Merle wandte sich in den Raum und erschrak nur mäßig, als sie Hans im Schaukelstuhl sitzen sah. In ihrer Erinnerung war er ein Junge, doch sie erkannte den jungen Mann mit den breiten Schultern sofort. So mochte er ausgesehen haben, als Greta ihn nach so vielen Jahren wieder heimgesucht hatte, um Johann zu holen. Seine Miene war trotz all dem, was er erlebt hatte, offen und freundlich, doch der Blick seiner sanften Augen hatten jegliche Unbefangenheit verloren, die Merle an ihrem einstigen Spielkameraden so geliebt hatte.
»Du. Endlich«, sprach sie ihn leise an. »Hast du unsere Greta von den Kindern weggelockt und auf den rechten Weg zurückgebracht?« Hans schaukelte leicht. Seine Kopfbewegung konnte ein Nicken sein. Merle zwinkerte und rieb sich die Augen, doch ihr Blick klärte sich nicht. Sie konnte Hans dort sitzen sehen, und auch wieder nicht. Sobald sie genauer hinsah, war dort ein leerer Schaukelstuhl, der sich leicht hin und her wiegte. Dabei hätte sie seine Unterstützung so dringend nötig! Sie lehnte sich neben das Fenster gegen die Wand und fühlte den rauhen Putz an ihrer erhitzten Wange. Und völlig unerwartet gesellte sich zu der Hilflosigkeit ein Gefühl der Schuld.
Weitere Kostenlose Bücher