Solange du schläfst
Eltern etwa noch in der Küche oder kamen die Geräusche aus dem Pferdestall?
Wieder krachte und knirschte es. Ich schoss in die Höhe, sprang aus dem Bett und eilte zur Tür.
Der Flur lag im Halbdunkel. Der helle Vollmond schien durch das große Panoramafenster im Giebel herein und sorgte für schummeriges Licht. Das Scharren und Poltern hatte aufgehört und es war wieder mucksmäuschenstill im Haus. Ich schlich auf Zehenspitzen Richtung Treppe. Vor dem Zimmer meiner Eltern blieb ich stehen und überlegte, ob ich sie wecken sollte. Doch dann entschied ich mich dagegen.
Sicher gab es eine harmlose Erklärung für die Geräusche. Vielleicht war eines der Pferde unruhig wegen der neuenUmgebung und polterte in seiner Box herum. Oder es hatte eine Kolik? Auch dann wurden die Pferde manchmal nervös, scharrten mit den Hufen oder traten sogar um sich.
Ich hatte die Küche erreicht und schlich nun zu der Verbindungstür, die in den Stall führte. Vorsichtig legte ich die Hand auf die Klinke. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich sie langsam herunterdrückte.
Mist! Sie war abgeschlossen.
Dafür war meine Mutter verantwortlich. Sie meinte, es wäre besser, die Tür zu verriegeln, weil man relativ leicht in den Pferdestall eindringen könnte. Und wenn die Küchentür nicht verschlossen sei, hätte jeder Einbrecher leichtes Spiel.
Zum Glück steckte der Schlüssel im Schloss. So leise wie möglich drehte ich ihn nach rechts. Dennoch gab es ein knirschendes Geräusch. Ich hielt erschrocken inne. Doch außer meinem eigenen Herzschlag war nichts zu hören. Nach einer Weile wagte ich, behutsam die Klinke herunterzudrücken, und schob die Tür ein paar Zentimeter auf.
Durch den Spalt hindurch konnte ich die Umrisse eines Pferdes erkennen. Rashun hatte seinen Kopf über die Boxentür gestreckt. Mit angehaltenem Atem schob ich die Tür noch ein Stückchen weiter auf und machte einen Schritt in den Stall.
Ich lauschte.
Alles war still.
Kein Poltern, kein Scharren.
Rashun hatte den Kopf zurück in die Box gezogen. Sekunden später vernahm ich ein gleichmäßig mahlendes Geräusch, das verriet, dass er sich am Heutrog zu schaffen machte.
Ich atmete auf.
Alles okay. Du leidest echt unter Verfolgungswahn, dachte ich und tastete nach dem Lichtschalter.
Da sah ich die Gestalt. Im nächsten Moment wurde die Stalltür aufgerissen und jemand stürmte ins Freie. Ich war so geschockt, dass ich zunächst einfach nur bewegungslos dastand. Mein Herz dröhnte wie verrückt gegen meine Brust.
Dann fing ich an zu schreien.
4.
Jérôme wälzte sich im Bett hin und her. Aus dem Schlafzimmer von Ella und Udo drang noch immer lautes Geschrei zu ihm herüber.
Müssen die denn unbedingt mitten in der Nacht streiten?, dachte Jérôme genervt.
Es war nicht das erste Mal, dass die beiden sich über die Zukunft des Hofs in den Haaren lagen. Ella träumte schon seit Langem von einem anderen Leben. Sie wollte weg, in die Stadt ziehen, sich einen Job irgendwo im Supermarkt suchen, während Udo auf dem Bau arbeitete. Das sei garantiert besser als dieser ewige Kampf ums Überleben, fand sie. Doch Udo wollte davon nichts wissen, und jetzt hatte er auch noch verkündet, dass er sich demnächst einen neuen Traktor anschaffen wollte. Daraufhin war Ella geradezu explodiert.
»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?«, keifte sie Udo an. »Wir sind schon jetzt bis über beide Ohren verschuldet. Und da willst du tatsächlich noch einen Kredit aufnehmen?« Sie lachte auf. »Als ob uns noch einer was geben würde.«
»Aber …«, versuchte Udo zu erwidern.
Doch Ella schnitt ihm sofort das Wort ab. »Nichts aber. Sieh es doch endlich ein. Der Hof ist am Ende. Wir sind pleite. Oder denkst du, ich bitte meine Schwester schon wieder um Geld?« Ellas Stimme wurde immer schriller. »Du spinnst ja. Wir leben doch jetzt schon von dem Geld, das sie uns monatlich für Jérôme überweist.«
»Du sollst deine Schwester überhaupt nicht um Geld bitten. Ich habe das Geld für den Traktor längst«, fuhr Udo wütend in die Höhe.
»Was?«, schrie Ella. »Sag bloß nicht, dass du hinter meinem Rücken zur Bank gegangen bist!«
»Das spielt keine Rolle. Ich hab das Geld und damit basta«, blaffte Udo zurück.
Jérôme seufzte. Das konnte noch eine ganze Weile so weitergehen. Im Dunkeln tastete er nach seinem iPod auf der Kommode, steckte sich die Stöpsel in die Ohren und schaltete das Gerät ein. Als die Musik erklang und die Stimmen nicht mehr zu
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