Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
stieg aus. Manchmal fuhr man durch ein Hasennest, das die unachtsame Hasenmutter auf dem Feld gebaut hatte. Einmal hatte Ray aus Versehen ein Rehkitz zerhäckselt. Wenn eine Ricke ihr Kitz allein ließ, dann rührte es sich nicht vom Fleck, bis seine Mutter wiederkam. Dabei ließ es sich von nichts aus der Ruhe bringen, nicht einmal von einem riesigen, Rauch speienden Monster, das sich direkt auf es zubewegte. Das hier aber waren keine Hasen und auch kein Rehkitz.
Es waren vier Ziegen. Ohne Kopf und mit aufgeschlitzten Kadavern.
Jemand hatte sie abgeschlachtet und ihre toten Körper in das kniehohe Gras geworfen. Jemand, der offensichtlich weder Ziegenfleischburger noch ranzigen Käse mochte.
Ray stellte den Motor des Massey Ferguson ab und lehnte sich an den Traktorreifen. Er sah, wie die Fliegen ihr vergammelndes Festmahl umschwirrten. Am Himmel erschien schon der erste Bussard, der gegen den Septemberwind ankämpfte.
Das waren bestimmt die Hippies gewesen. Oder die Yankees. Wer, zum Teufel, killte ohne Grund eine Ziege? Ray konnte die sturen Viecher zwar nicht leiden, aber deshalb würde er sie noch lange nicht töten. Nicht einfach so. Wenn er ein Tier schlachtete, dann nur, um etwas zu essen zu haben.
Wer das getan hatte, hatte weder Achtung vor den Bergen noch vor der Landwirtschaft noch vor dem Leben. Jemand, der so etwas tat, gehörte nicht in dieses Tal. Solom hatte immer auf sich achtgegeben, hatte immer sein eigenes Ding gemacht, selbst als Fremde begonnen hatten, hier Land zu kaufen. Und Ray wusste, dass sich Solom auch diesmal um den respektlosen Dreckskerl kümmern würde, der diese abscheuliche Tat begangen hatte.
4. KAPITEL
Arvel Ward zog die Gardinen zu und ging weg vom Fenster.
Nächte wie diese verbrachte man am besten drin. Denn die Ziegen waren unterwegs. Und der, der die Macht über sie hatte. Auch andere Geschöpfe trieben sich draußen herum. Der Herbst war die Zeit des dunklen Zaubers. In Solom öffnete sich die Tür zwischen Leben und Tod nicht nur um Mitternacht zu Halloween. Hier war die Kluft so dünn wie die Seiten einer alten Bibel.
Arvel hatte Harmon Smith, besser bekannt als »der Wanderprediger«, zum ersten Mal auf dem Schweinepfad hinter dem Verlorenen Joch gesehen. Damals war er neun und kam gerade vom Angeln zurück. An einem Stachelbeerstrauch machte er Rast. Es war August, die Beeren waren prall und saftig, mit grünen Tigerstreifen. Von Stachelbeeren bekam er immer Dünnpfiff, und er wusste eigentlich, dass er nicht zu viele davon essen durfte. Aber sie schmeckten so wunderbar süß, dass er einfach nicht aufhören konnte, immer mehr in seinen Mund zu stopfen. Die drei Regenbogenforellen in seinem kleinen Schilfkörbchen hatte er darüber fast vergessen.
Harmon kam über ihn, als er sich im Schatten ausruhte. Sein Bauch war geschwollen, dick wie eine Zecke. Arvel blinzelte nach oben, denn der Mann stand mit dem Rücken zur Sonne. Sein Gesicht lag im Schatten der breiten, abgewetzten Krempe seines runden Hutes. Arvel wusste sofort, wer es war. Seit die anderen Pfarrer ihn in die Enge getrieben und umgebracht hatten, zog der Wanderprediger in den Bergen umher und suchte nach seinem Pferd. Arvel wollte Harmon Smith gar nicht recht die Schuld geben für all die schrecklichen Dinge, die die Leute von ihm behaupteten. Schließlich hatte man ihn in drei verschiedenen Gräbern begraben. Da konnte eine Seele schlecht Ruhe finden – besonders, wenn sie einem Mann Gottes gehörte.
Man sagte, Harmon habe Johnny Hampton unter dem Wasserrad der alten Rominger-Getreidemühle festgeklemmt, so dass sich Johnnys Fuß in einer der Schaufeln verfing. Der kleine Johnny drehte Runde um Runde, und jedes Mal, wenn sein Kopf aus dem Wasser herauskam, schrie er aus Leibeskräften und schnappte nach Luft, bevor er wieder abtauchte. Wohl zwanzig Mal drehte sich das Rad, bevor er völlig erschöpft war und ertrank. Den Mühlenarbeitern war es nicht gelungen, das Wasserrad zum Stehen zu bringen. In den Kirchenbüchern und amtlichen Unterlagen wurde sein Tod als Unfall verzeichnet, doch die Einwohner von Solom führten ihr eigenes geheimes Buch.
Arvels Großonkel Kenny war einmal im Mondschein die Straße entlanggaloppiert. An der überdachten Holzbrücke, die damals beim Tante-Emma-Laden über den Fluss führte, gab Kenny seinem Pferd die Sporen, denn es klang so schön, wenn das Hufgetrappel über die Bretter hallte. Allerdings hatte an diesem Tag ein Zimmermann das Dach der
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