Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
Wiesen, und im Gemüsegarten hinterm Haus wuchs eine üppige Ernte heran. Hier, im Schein der hellen Sommersonne, fühlte Arvel sich sicher.
»Ich sehe kein Pferd«, sagte der Wanderprediger.
»Aber natürlich, es steht in der Scheune.«
»Du lügst, Junge!«
Arvels Herz schlug wie verrückt. Er warf seinen Stock und das Fischkörbchen weg und rannte, was das Zeug hielt. Dabei schrie er wie ein aufgespießtes Ferkel. Doch trotz des Lärms, den er verursachte, hörte er deutlich die Stimme des Wanderpredigers aus dem Schatten der Obstbäume: »Wer lügt, geht zum Teufel, mein Junge. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.«
Vater peitschte ihn aus, weil er einen solchen Tumult veranstaltet und das Vieh aufgeschreckt hatte. Zeke ärgerte und neckte ihn noch Tage danach, aber das alles machte Arvel nichts aus. Hauptsache, er war noch am Leben. Doch er wusste, dass Harmon Smith niemals vergaß und dass sein Ritt nie zu Ende sein würde. Früher oder später würde Arvel für seine Lüge geradestehen müssen.
Er hoffte nur, dass es nicht ausgerechnet heute passieren würde. Zeke war zwar schon von ihnen gegangen, doch das war ein Unfall gewesen. Hätte jedem zustoßen können. Wenn Harmon Smith eine Seele holen wollte, wartete er nicht, bis sie alt war. Seine Methode war die Gewalt. Er war gewaltvoll aus dem Leben geschieden, also musste auch er Gewalt anwenden.
Arvel verriegelte die Türen. Vielleicht hätte er Gordons neue Frau und das Mädchen warnen sollen, auch wenn sie noch so komisch waren. Aber die waren nicht von hier. Und außerdem bedeutete jedes neue Opfer, das zwischen Arvel und dem Wanderprediger stand, einen Aufschub für ihn. Ein bisschen mehr Zeit bis zum Tag der Abrechnung.
5. KAPITEL
Tomaten.
Die verflixten Tomaten würden sie noch mal in den Wahnsinn treiben.
Betsy Ward hatte fast dreißig Pfund der hässlichen roten Dinger eingekocht, gedünstet, eingefroren und getrocknet. Der Mehltau hatte in diesem Jahr heftig zugeschlagen, denn der Sommer war feucht gewesen. Der erste Frost hatte den Pflanzen den Rest gegeben, aber Arvel, ihr Mann, hatte noch rechtzeitig vor dem herbstlichen Sterben zwei große, volle Körbe reingebracht. Jetzt lagen die Tomaten überall: auf dem Fensterbrett, auf der Küchenarbeitsplatte, in den Regalen der Vorratskammer. Aus dem dunklen Grün wurde langsam Rosa und schließlich ein sündiges Rot, hier und da ein verräterischer schwarzer Punkt. Das Besondere an Tomaten war, dass es weder Käfer noch Raupen mit ihnen aufnehmen konnten. Die Pflanzen waren Gift, so giftig wie Tollkirschen, und die Schädlinge wussten, dass Tomaten tödlich sein konnten. Aber Menschen waren dümmer als Käfer und Raupen.
Betsy wischte sich mit einem schmutzigen Wischtuch den Schweiß von der Stirn. Sie stammte aus Solom. Zwischendurch war sie mal ein Jahr lang aufs College gegangen, weg von den Bergen. Sie wollte Sekretärin werden, vielleicht sogar auf die Westridge University gehen. So hätte sie sich Urlaubs- und Rentenansprüche gesichert. Doch dann war Arvel mit seinem Pick-up gekommen, mit seinen Doc-Watson-Kassetten und seinem dicken Auspuff. Für ein neunzehnjähriges Mädchen aus den Bergen erschien er wie die große Offenbarung. Eines Nachts vergaßen sie den Gummi, neun Monate später waren sie verheiratet. Als das Baby geboren wurde, hatte es die Nabelschnur um den Hals geschlungen. Danach hatten sie es noch ein paar Mal versucht, aber es hatte nicht geklappt. Jetzt war alles, was sie hatten, ihr lang gestrecktes Grundstück mit Garten und so viele Tomaten, dass Betsy sich am liebsten Arvels Schrotflinte geschnappt und sie alle zu Püree zerschossen hätte.
Sie schaute aus dem Fenster. Die neue Frau von Gordon Smith ging gerade zum Briefkasten. Sie sah abgehärmt aus, so wie Frauen aus der Großstadt eben aussehen. So als könnte man nicht ohne Make-up ins Tageslicht treten. Dennoch schien sie in Ordnung zu sein, nicht so eingebildet wie die anderen von außerhalb, die seit Betsys Kindertagen das Tal überrannten. Betsy konnte ihre Küche gerade nicht mehr ertragen. Also schnippte sie sich die Tomatensamen von den Fingern und ging zur Tür. Da würde sie eben mal die neue Nachbarin begrüßen.
Am Anfang der Kiesauffahrt standen vier Briefkästen. Arvels Hof befand sich am dichtesten an der Straße, dann kam Gordons Grundstück und dann das Land von einem Typen, den Betsy noch nie in ihrem Leben getroffen hatte. Einmal hatte sie in seinen Briefkasten
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