Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
Familienbibel zu finden.
Über die Taten des guten Harmon Smith hatte es einst zahlreiche Aufzeichnungen gegeben. Er war ein methodistischer Pfarrer gewesen, der im 19. Jahrhundert die Religionsgrenzen überschritten hatte. Mit seinem Pferd Old Saint hatte er drei Bundesstaaten jeweils zur Hälfte durchreist. Doch während zu jener Zeit ein anderer Pfarrer, Reverend Duncan Blackburn, der sich um die Belange der Episkopalen und der wenigen Katholiken in den Bergen gekümmert hatte, auf geweihtem Grund begraben wurde, starb Smith unter mysteriösen Umständen auf dem Bergkamm, der heute als Lost Ridge – das Verlorene Joch – bekannt war.
Der Sage nach war er gerade auf dem Weg zum Sterbebett einer alten Witwe, als in einer kalten Januarnacht ein Schneesturm aus der kanadischen Tundra herüberwehte und Harmon Smiths heilige Schuld in vollem Umfang einlöste. Im einundzwanzigsten Jahrhundert würdigte man Blackburn mit einem gezeichneten Porträt auf den letzten Seiten in den hintersten Regalen der Unibibliothek, während Smiths Leiche auf drei verschiedenen Friedhöfen begraben lag. Niemand wusste, wo sich seine Überreste wirklich befanden.
Manche stellten sogar die Frage, ob es überhaupt Überreste von ihm gegeben hatte, die es wert gewesen waren, der Erde wieder zugeführt zu werden.
Doch das hier war Solom. Ein Ort, durch den ein uralter Fluss floss. Fragen stellten hier nur die, die es nicht besser wussten. Die Außenseiter und Eindringlinge. Und die, die in der fernen Dämmerung ein leises Hufgeklapper hörten.
2. KAPITEL
Mäusedrecker.
Sarah Jeffers fegte mit dem Besen um den Ladentisch. Das gute Stück aus dunklem Ahornholz stand gleich neben der Eingangstür des Tante-Emma-Ladens von Solom. Wohl zwei Millionen Mal waren Geld und Waren über diesen Ladentisch gegangen, und das sah man ihm auch an. Die meisten Lampen waren schon ausgeschaltet, denn es war kurz vor Ladenschluss. All die Puppen, Werkzeuge, Kunsthandwerksartikel aus den Bergen und der ganze andere Plunder, der von den Deckenbalken herabhing, warfen lange Schatten an die Wand. Nach all den Jahren in diesem Laden war ihr der Geruch von Tabak, Holzofenrauch, Cola und Schuhwichse in Fleisch und Blut übergegangen.
Als das Geschäft eröffnete, erlebte die Stadt gerade ihre Blütezeit, kurz vor dem ersten Weltkrieg. Damals fuhr die Holzindustrie ihren großen Angriff auf die Laubhölzer der Gegend. Am Bahnhof war ein ständiges Kommen und Gehen. Mit der Eisenbahn waren auch Sarahs Großeltern aus Pennsylvania in die Berge gekommen. Die Jeffers – früher trugen sie den Familiennamen Jaffe – bauten den Laden praktisch aus dem Nichts auf. Sie sammelten Flusssteine für das Fundament, handelten und tauschten, um ihren Warenbestand zu vergrößern, ja sie zogen sogar ihre eigenen Arbeitskräfte heran. Sie waren Juden, aber das war den Leuten egal, denn sie hielten ihren Gottesdienst hinter verschlossenen Türen im Wohnzimmer ab. Hauptsache der Laden war samstags und sonntags geöffnet.
Als auf den Hängen nur noch Stümpfe standen und die Holzfäller weitergezogen waren, schlossen die Sägewerke. Danach schien es, als liefen die Uhren rückwärts. Der Damm am Flussufer begann zu zerfallen, und die kleine Siedlung, die rund um das Sägewerk entstanden war, war nach und nach dem Verfall preisgegeben. Zwar gaben sich ab und zu die ersten Fords ein Stelldichein auf den staubigen Bergstraßen. Am Steuer saßen meistens Holzbarone, die nach ihren Investitionen sehen wollten. Dennoch waren vor allem Pferdefuhrwerke Zeugen des schleichenden Todes der Stadt. Als die Weltwirtschaftskrise kam, war Solom nur noch eine Durchfahrtsstation an der Virginia Creeper Eisenbahnlinie. Dann kam das Hochwasser von 1940 und riss den Bahnhof mit sich fort, ebenso wie ein Drittel der noch verbleibenden Gebäude und ein Dutzend Menschenleben.
Sarahs Großeltern waren im Abstand von wenigen Wochen gestorben. Ihre drei Kinder stritten sich darum, wer hier bleiben und den Laden fortführen musste. Sarahs Vater Elisha zog den Kürzeren. Er nahm sich unverzüglich eine Baptistin der alten Schule zur Frau, denn sie konnte Plus und Minus rechnen und wusste sich ruhig zu verhalten. Sie hieß Laurel Lee. Der Tante-Emma-Laden stand die ganze Zeit unbeirrt auf seiner kleinen Anhöhe über dem Fluss. Mit den Zeiten wandelte sich auch das Warenangebot. Tabakbeutel und Zigarettenpapier machten Platz für Marlboro Filterzigaretten, Lackritzstangen verschwanden aus den
Weitere Kostenlose Bücher