Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
Brücke repariert und aus Versehen eine Bauschnur an den Sparren hängen lassen. In der Nacht war die Schnur verrutscht. Als Kenny auf seinem Pferd über die Brücke galoppiert kam, hing die Schnur genau auf der Höhe, in der sich der Hals des Reiters befand. Zwar war Kennys Kopf nicht komplett abgetrennt worden, doch das bisschen Fleisch, das seinen baumelnden Kopf noch mit dem Hals verband, hätte kaum gereicht, um eine Wurst damit zu stopfen.
Andere wiederum waren von Heurechen aufgespießt worden, hatten sich an rostigen Sägeblättern eine Blutvergiftung zugezogen, und der alte Willet Miller war von einem Ziegenbock aufgespießt worden. Er hatte ihm die Gedärme ausgerissen, die herunterbaumelten wie Nudeln auf der Gabel. Mit diesem Wissen im Kopf hatte der kleine Arvel an diesem längst vergangenen Tag keinerlei Hoffnung gehabt, dass er jemals wieder aufstehen und einfach so davonlaufen könnte. Froh war er nur über zwei Dinge: dass er mit einem Bauch voller Stachelbeeren sterben würde und dass es ihm erspart bleiben würde, vor dem Abendbrot die Forellen zu putzen.
»Junge«, hatte Harmon Smith da gebrummt und sich an den Hut getippt. In seiner Stimme schwangen weder Pech noch Schwefel, nicht einmal der typische Donnerklang eines Predigers. Er redete einfach so daher.
»Sie sind der Wanderprediger, der mit dem Pferd«, hatte Arvel gesagt. Ihm war klar, dass dies nicht die Zeit für Späßchen war, außerdem wollte er sich gut benehmen. Free Will Baptisten mussten sich den Zugang zum Himmelreich verdienen, und Arvel war klar, dass er jetzt dafür geradestehen musste, dass er im Tante-Emma-Laden mal Süßigkeiten gemaust hatte. Vor Gottes allwissenden Augen zählte es offenbar auch als Sünde, wenn man etwas von einem Juden stahl.
Harmons Kopf wackelte hin und her, so dass Arvel manchmal einen Blick auf seine markante Nase und das kantige Kinn erhaschen konnte. »Sieht nicht so aus, als ob ich gerade viel reite, oder?«
Arvel blinzelte und versuchte die Augen des Mannes im Schatten des breitkrempigen Hutes zu erkennen. Fast schien es, als hätte der Alte überhaupt kein Gesicht, als wäre er nur ein Brocken Dunkelheit. Sein schwarzer Anzug war mit Löchern übersät, sein Hemd aus grobem Wergleinen. Das trugen heutzutage höchstens noch die Kinder der Ärmsten. »Suchen Sie Ihr Pferd?«
»Hast du etwa eins gesehen?«
Arvel tat so, als ob er mit den Augen den ganzen Weg nach einem Pferd absuchte. »Ich glaube, dort vorn habe ich eins gesehen«, sagte er und nickte in die Richtung, in der sich die Ward-Farm befand.
Arvel kam es vor, als sei ein Lächeln über das Gesicht des Mannes gehuscht. Die Dunkelheit schien zu brechen, braune Zähne blitzten auf. »Und du würdest mich da hinführen?«
»Ja, warum nicht, natürlich, Sir!«
»Achtung vor den Alten. Das spricht für dich, mein Junge.«
»Ich versuche immer gut zu den Menschen zu sein«, erwiderte Arvel, und seine Worte waren ebenso für Gottes Ohr bestimmt wie für Harmons.
»Also gut, zeig mir das Pferd!«
Arvel stand langsam auf, machte die Hosenträger fest, die er bei seinem Verdauungspäuschen gelockert hatte, und lief los, sorgsam darauf bedacht, nicht zu schnell zu gehen. Der Wanderprediger lief hinter ihm her und wirbelte mit seinen abgetretenen Stiefeln den Staub auf. Arvel warf ein verstohlenes Auge nach hinten in der Hoffnung, vielleicht einen Blick auf das Gesicht des Mannes zu erhaschen, jetzt, da ihnen die Sonne entgegenschien. Doch irgendwie schaffte es der Prediger, sich immer im Schatten zu halten. Arvel balancierte seinen Rohrstock über der Schulter und überlegte, was wohl passieren würde, wenn er den Haken wie aus Versehen in das Fleisch des Wanderpredigers spießte. Konnte ein toter Mann Schmerz empfinden?
Sie liefen durch den Obstgarten, der sich zwischen den Höfen der Wards und der Smiths befand. Die Äpfel waren sauer und klein, sie brauchten noch Wochen, bis sie reif sein würden. In Arvels Bauch grummelte es schon gewaltig von all den Stachelbeeren, die er gegessen hatte. Er überlegte kurz, ob er noch mal schnell hinter einem Baum verschwinden sollte oder ob er es bis zum Klohäuschen schaffen konnte. Würde der Wanderprediger ihn in Ruhe lassen, oder würde er bei offener Tür beobachten, wie er sein Geschäft machte?
Den Obstgarten hatten sie hinter sich gelassen, vor ihnen lag die Ward-Farm. Arvels Vater hackte Holz, sein Bruder Zeke streute gerade Körner für die Hühner aus. Um sie herum lagen riesige
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