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Sommer

Sommer

Titel: Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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könne. Aber an diesem Nachmittag, Malte, da sie wirklich nicht mehr kommen konnte –: da kam sie. Vielleicht war es unsere Schuld; vielleicht haben wir sie gerufen. Denn ich erinnere mich, daß ich auf einmal dasaß und angestrengt war, mich zu besinnen, was denn eigentlich nun anders sei. Es war mir plötzlich nicht möglich zu sagen, was ; ich hatte es völlig vergessen. Ich blickte auf und sah alle andern dem Hause zugewendet, nicht etwa auf eine besondere, auffällige Weise, sondern so recht ruhig und alltäglich in ihrer Erwartung. Und da war ich daran – (mir wird ganz kalt, Malte, wenn ich es denke) aber, Gott behüt mich, ich war daran zu sagen: »Wo bleibt nur –« Da schoß schon Cavalier, wie er immer tat, unter dem Tisch hervor und lief ihr entgegen. Ich hab es gesehen, Malte, ich hab es gesehen. Er lief ihr entgegen, obwohl sie nicht kam; für ihn kam sie. Wir begriffen, daß er ihr entgegenlief. Zweimal sah er sich nach uns um, als ob er fragte. Dann raste er auf sie zu, wie immer, Malte, genau wie immer, und erreichte sie; denn er begann rund herum zu springen, Malte, um etwas, was nicht da war, und dann hinauf an ihr, um sie zu lecken, gerade hinauf. Wir hörten ihn winseln vor Freude, und wie er so in die Höhe schnellte, mehrmals rasch hintereinander, hätte man wirklich meinen können, er verdecke sie uns mit seinen Sprüngen. Aber da heulte es auf einmal, und er drehte sich von seinem eigenen Schwunge in der Luft um und stürzte zurück, merkwürdig ungeschickt, und lag ganz eigentümlich flach da und rührte sich nicht. Von der andern Seite trat der Diener aus dem Hause mit den Briefen. Er zögerte eine Weile; offenbar war es nicht ganz leicht, auf unsere Gesichter zuzugehen. Und dein Vater winkte ihm auch schon, zu bleiben. Dein Vater, Malte, liebte keine Tiere; aber nun ging er doch hin, langsam, wie mir schien, und bückte sich über den Hund. Er sagte etwas zu dem Diener, irgend etwas Kurzes, Einsilbiges. Ich sah, wie der Diener hinzusprang, um Cavalier aufzuheben. Aber da nahm dein Vater selbst das Tier und ging damit, als wüßte er genau wohin, ins Haus hinein.
    Werke VI (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge), 790-792
    Das XII. Sonett an Orpheus
    H eil dem Geist, der uns verbinden mag;
denn wir leben wahrhaft in Figuren.
Und mit kleinen Schritten gehn die Uhren
neben unserm eigentlichen Tag.
    Ohne unsern wahren Platz zu kennen,
handeln wir aus wirklichem Bezug.
Die Antennen fühlen die Antennen,
und die leere Ferne trug …
    Reine Spannung. O Musik der Kräfte!
Ist nicht durch die läßlichen Geschäfte
jede Störung von dir abgelenkt?
    Selbst wenn sich der Bauer sorgt und handelt,
wo die Saat in Sommer sich verwandelt,
reicht er niemals hin. Die Erde schenkt .
    Werke I , 738
    O rte, Landschaften, Thiere, Dinge: alles das weiß ja in Wirklichkeit nicht von uns: wir gehen durch wie ein Bild durch den Spiegel geht. Wir gehen durch: das ist unsere ganze Beziehung, und die Welt ist zu wie ein Bild: wir kommen nirgends hinein. Aber gerade darum hilft uns das alles so: die Landschaft, dieser Baum, durch den der Wind blättert, dieses Ding das umgeben ist vom Nachmittag und in sich beschäftigt, wie alle Dinge –: weil wir nichts von alledem mitreißen können in unser Ungewisses, in unsere Gefahr, in unser dunkles unaufgeklärtes Herz; darum hilft uns das alles. Und ist Ihnen nie aufgefallen, daß dies der
Zauber aller Kunst ist, ihre ungeheuere und heroische Kraft: daß sie uns mit diesem Fremdesten verwechselt, es in uns und uns in es verwandelt, unser Leid in die Dinge legt und das Unbewußte und Unbefangene der Dinge in uns hineinwirft aus rasch gewendeten Spiegeln –?
    Nádherný (13. 6. 1908), 51
    Die Flamingos
    Jardin des Plantes, Paris
    I n Spiegelbildern wie von Fragonard
ist doch von ihrem Weiß und ihrer Röte
nicht mehr gegeben, als dir einer böte,
wenn er von seiner Freundin sagt: sie war
    noch sanft von Schlaf. Denn steigen sie ins Grüne
und stehn, auf rosa Stielen leicht gedreht,
beisammen, blühend, wie in einem Beet,
verführen sie verführender als Phryne
    sich selber; bis sie ihres Auges Bleiche
hinhalsend bergen in der eignen Weiche,
in welcher Schwarz und Fruchtrot sich versteckt.
    Auf einmal kreischt ein Neid durch die Volière;
sie aber haben sich erstaunt gestreckt
und schreiten einzeln ins Imaginäre.
    Werke I , 629f.
    Papageien-Park
    Jardin des Plantes, Paris
    U nter türkischen Linden, die blühen, an Rasenrändern,
in leise von ihrem Heimweh

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