Sommer
im Juli 1904 an seine Frau Clara. Der Dichter hatte kein einfaches Verhältnis zum Sommer. Gerade darin liegt der besondere Reiz, Rilke über den Sommer dichten und erzählen zu hören.
Einerseits vermag es Rilke, die ganze Pracht der Jahreszeit zusammenzufassen in der Beschreibung eines ländlichen Gartens mit seinen »zusammengezimmerten Apfelbäumen«, eines wilden Rosenbuschs, der dem Wanderer entgegenduftet, und der Fontänen in einem Park, jener »Bäume aus Glas«. Andererseits deckt er mit wenigen Worten auch die Trostlosigkeit der Städte im Sommer auf. So schreibt Rilke über die Kleinstädte seiner böhmischen Heimat, sie hätten » einen Tag auswendig gelernt; den schreien sie immerfort wie große graue Papageien in die Sonne hinein«. Und die Metropole Paris muß die trübseligsten und hoffnungslosesten Attraktionen bemühen, um ihre Bewohner bei Laune zu halten – nämlich den »Panther« und die Papageien in ihren Käfigen im Jardin des Plantes, sowie die afrikanischen »Aschanti«-Menschen, die wie Tiere zur Schau gestellt werden.
Rilke führt begeistert den Zauber ferner Welten vor Augen, etwa im Schauspiel eines Stierkampfes oder der Säulenkulisse des altägyptischen Karnak – und die Armseligkeit des modernen Tourismus, dessen frühe Auswüchse er auf Capri und in der Toskana erlebte und an dem er als geübter Baedeker-Leser auch seinen Anteil hatte. Rilke beschwört prächtige Sternennächte und mondbeschimmerte Wege im sommerlichen Garten, aber auch das Nicht-ein
schlafen-Können in einer schwülen Großstadtnacht, deren Lärm durchs geöffnete Fenster dringt. Er zeichnet die erotische Spannung nach, die ein heißer Sommernachmittag zwischen zwei Menschen am Klavier aufbauen kann, und die Wonnen, in die diese Spannung umkippen könnte, und er fragt nach den Enttäuschungen der Liebe, die allzu schnell folgen »auf die Sehnsucht am Fenster, / und den ersten gemeinsamen Gang, ein Mal durch den Garten: / Liebende, seid ihrs dann noch?« Selbst die Frucht, Inbegriff sommerlicher Sinnlichkeit, wendet Rilke um zur Metapher des Todes.
Wenn Rainer Maria Rilke in einem Essay über den Künstler Heinrich Vogeler in einem Atemzug von »des Sommers Fülle, Bürde und Überfluß« spricht, dann faßt er mit diesen wenigen Worten den ganzen Zwiespalt zusammen, den die Jahreszeit in ihm weckt. In Rilkes Bild vom Sommer haben viele Sommer Platz. So kann man sich lesend in seine Beschreibungen eines heiter-gelösten Sommergartens hineinversetzen, um diese Stimmung in irgendeiner Blume des eigenen Sommers wiederzufinden. Aber man muß nicht die scheinbar unpoetischen Schattenseiten des Sommers ausblenden, um Rilke folgen zu können. Denn auch ihnen gibt er ihr Recht und ihre Bedeutung.
So entsteht ein reiches Mosaik des Sommers mit »Apfelbäumen wie von Dürer«, »Spiegelbildern wie von Fragonard« und jenen Schnappschüssen sommerlicher Großstadtszenen, wie wir sie auch im heutigen Alltag ohne weiteres aufnehmen könnten.
Thilo von Pape
Verwendete Ausgaben mit Kurztiteln
Andreas-Salomé · Rainer Maria Rilke – Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. Herausgegeben von Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main 1975
Aretin · Der Dichter und sein Astronom. Der Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Erwein von Aretin. herausgegeben von Karl Otmar von Aretin und Martina King. Frankfurt am Main und Leipzig 2005
Briefe I , II · Rainer Maria Rilke: Briefe. Herausgegeben vom Rilke-Archiv in Weimar; in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Karl Altheim. Wiesbaden 1950
Gedichte in französischer Sprache · Rainer Maria Rilke: Gedichte in französischer Sprache. Mit deutschen Prosaübertragungen von Rätus Luck. Herausgegeben von Manfred Engel und Dorothea Lauterbach. Frankfurt am Main und Leipzig 2003 (= Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski und August Stahl. Frankfurt am Main und Leipzig 1996. Supplementband)
Hattingberg · Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit Magda von Hattingberg. Herausgegeben von Ingeborg Schnack und Renate Scharffenberg. Frankfurt am Main und Leipzig 2000
Heydt · Rainer Maria Rilke: Die Briefe an Karl und Elisabeth von der Heydt. 1905-1922. Herausgegeben von Ingeborg Schnack und Renate Scharffenberg. Frankfurt am Main 1986
K. Kippenberg · Rainer Maria Rilke – Katharina Kippenberg: Briefwechsel. Herausgegeben von Bettina von Bomhard. Wiesbaden 1954
Key · Rainer Maria
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