Sommer
organisch macht. Er hat manchmal (auf den neuen Federzeichnungen) Bäume erfunden, deren Astwerk von so fabelhafter Durchbildung und Gesetzmäßigkeit erfüllt ist, daß sie einer komplizierten Wirklichkeit genau nachgebildet scheinen. Seine Liniensprache, welche
auf den frühen Radierungen nur wenige Ausdrücke, rhythmisch, (wie im Volkslied) wiederholte, entnahm dem dichteren Garten tausend Bereicherungen. An Stelle des Lokkeren und Lichten, das seinen Blättern und Bildern im Anfang eigentümlich schien, tritt immer mehr das Bestreben, einen gegebenen Raum organisch auszufüllen. Auf den Radierungen aus der späteren Zeit beginnt diese neue Absicht deutlich zu werden, aber erst auf den Federzeichnungen erfüllt sie sich ganz. Wie eine Baumflechte mit tausend und abertausend Fäden überzieht die Zeichnung das Blatt, überwuchert es mit ihrem Reichtum, breitet sich darinnen aus wie ein Gewebe unter dem Mikroskop. Mag, was den Inhalt dieser merkwürdigen Blätter betrifft, die dekadente Linienphantastik Aubrey Beardsleys anregend auf Vogeler gewirkt haben, das Wesentliche an ihnen wuchs aus ihm heraus, und der Einfluß seines Gartens ist stärker als jeder andere gewesen.
Wie aus dem intensiven und sachlichen Empfinden des Frühlings die filigranen Figuren jener Prinzen und Edelkinder entsprangen, welche die Märchenradierungen erfüllen, so scheinen die phantastischen Gestalten der Zeichnungen aus Sommer-Märchen zu stammen. Etwas von des Sommers Fülle, Bürde und Überfluß ist in ihnen. Das Schwerwerden der Früchte, aber noch viel mehr das maßlose Aufgehen großer gezüchteter Blumen, die, weil sie für keine Frucht sparen müssen, immer mehr anwachsen, üppiger und schwüler werden. Kelch rollt sich aus Kelch und, wie Fangarme von Polypen, langen die schlangenhaften Staubfäden nach unwahrscheinlichen gekrönten Vögeln hin, die, im Verkehr mit diesen überschwenglichen Blumen, ihnen ähnlich werden. Es ist wie ein Meeresgrund, in den man sieht, und die Last eines schweren Meeres scheint über dieser lautlosen Natur zu liegen. Und so wahr und
überzeugend ist das Leben dieser Formen, daß man ihnen die Farbe anfühlt, die giftige, glänzende, übertriebene Farbigkeit, die sie verschweigen.
Werke V , 124-128
G estern, an einem herrlichen, vollen Sommertag, mit vielen strahlenden und bunten Stunden, fuhren wir wieder, den Frühstückskorb auf dem Bock, aus, wie damals –; erst nach der Rabenau und von da, fast ohne Aufenthalt, weiter nach Appenborn, dem alten Stammsitz der einen rabenauschen Hauptlinie. Ein kleiner bäurisch-senioraler Herrenhof mit Freitreppe und alten, eichenen Säulen; der Wirtschaftshof rund herum, so daß man ihn vom Saal aus übersieht, und mit einem alten, terrassenförmig nach dem Haus hin abfallenden Garten, in dem die Pächtersfrau alle Blumen zieht. Und der Phlox steht hoch neben den alten, zusammengezimmerten Apfelbäumen und Georginen und Astern und Gladiolen und des Tabaks tags verschlossener Blütenstern …
Briefe I (Clara Rilke, 23. 8. 1905), 109
Der Apfelgarten
Borgeby-Gård
K omm gleich nach dem Sonnenuntergange,
sieh das Abendgrün des Rasengrunds;
ist es nicht, als hätten wir es lange
angesammelt und erspart in uns,
um es jetzt aus Fühlen und Erinnern,
neuer Hoffnung, halbvergeßnem Freun,
noch vermischt mit Dunkel aus dem Innern,
in Gedanken vor uns hinzustreun
unter Bäume wie von Dürer, die
das Gewicht von hundert Arbeitstagen
in den überfüllten Früchten tragen,
dienend, voll Geduld, versuchend, wie
das, was alle Maße übersteigt,
noch zu heben ist und hinzugeben,
wenn man willig, durch ein langes Leben
nur das Eine will und wächst und schweigt.
Werke I , 637f.
I ch bin zu Hause zwischen Tag und Traum.
Dort wo die Kinder schläfern, heiß vom Hetzen,
dort wo die Alten sich zu Abend setzen,
und Herde glühn und hellen ihren Raum.
Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.
Dort wo die Abendglocken klar verklangen
und Mädchen, vom Verhallenden befangen,
sich müde stützen auf den Brunnensaum.
Und eine Linde ist mein Lieblingsbaum;
und alle Sommer, welche in ihr schweigen,
rühren sich wieder in den tausend Zweigen
und wachen wieder zwischen Tag und Traum.
Werke I , 151
M it einem Ast, der jenem niemals glich,
wird Gott, der Baum, auch einmal sommerlich
verkündend werden und aus Reife rauschen;
in einem Lande, wo die Menschen lauschen,
wo jeder ähnlich einsam ist wie ich.
Denn nur dem Einsamen wird offenbart,
und vielen Einsamen der gleichen
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