Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
vorbei; eines davon ein Lowrider, aus dem laute Musik dröhnte, das andere eine Limousine, deren Fahrer kaum groß genug war, um über das Lenkrad zu gucken. Sie hielt den Atem an, wäre beinahe ohnmächtig geworden, während sie darauf wartete, dass jemand sie bemerkte oder die Leichen entdeckte oder …
Sie erblickte das Objekt, das Vance in seiner Eile hatte fallen lassen. Jeder Nerv in ihrem Körper vibrierte, als sie sah, dass es sich um die Tasche von der Jeans des Jungen handelte.
Der Stoff war blutdurchtränkt, vermutlich von dem Schnitt in Jordans Hand. Deshalb hatte er sie nicht zurücklassen wollen. Sie wusste, dass Beweise nicht zu sehr angefasst werden sollten. Ganz vorsichtig ließ sie das Stoffstück also in einen Gefrierbeutel in ihrem Rucksack gleiten, in dem tagsüber ihr Pausenbrot gewesen war. Ihre Hand, mit der sie ihr Handy herausholte, zitterte so sehr, dass sie nicht wählen konnte. Das zeigten sie in Polizeisendungen nie – dass die eigenen Finger und Hände in Wahrheit aufhörten, zu gehorchen, wenn man Angst hatte. Sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie 911 eingetippt hatte. Ihr zitternder Daumen schwebte über dem Anrufen-Knopf.
„Neun-eins-eins, um was für einen Notfall handelt es sich?“
Noch etwas, das nicht mehr funktionierte: ihre Stimme. Sie fühlte sich, als würde sie erdrosselt.
„Hallo? Was für einen Notfall möchten Sie melden?“
Sie fand ihre Stimme wieder und formte mit ihr Worte, vondenen sie nie gedacht hätte, sie einmal auszusprechen. „Ich habe gerade einen Mord beobachtet. Zwei Jungen – Mario und Jo-Jo Balzano. Er … er hat sie umgebracht.“ Sie hatte genügend Polizeiserien im Fernsehen gesehen, um zu wissen, dass das hier ein glasklarer Fall war. Sie kannte den Mörder. Sie hatte ein Beweisstück.
„Sind Sie in Sicherheit?“
„Nein … ja … ich schätze, im Moment schon. Bitte …“
„Wie heißen Sie?“
Irgendetwas hielt sie davon ab, ihren Namen zu verraten. „Er … ich habe gesehen, wer es getan hat.“
„Können Sie mir seinen Namen sagen?“
„Es war Vance Jordan.“
Es gab eine Pause, in der die Ungläubigkeit beinahe mit den Händen zu greifen war. Dann sagte der Vermittler: „Können Sie das bitte wiederholen?“
Clarissa legte auf. Es hätte so einfach sein sollen: Sie hätte ihre Aussage bei der Polizei machen müssen, und alles wäre gut gewesen. Stattdessen fing in diesem Augenblick ein Albtraum an, der kein Ende nahm.
Ein paar Minuten später vibrierte ihr Handy – unbekannter Teilnehmer. Was nun? Wasnunwasnunwasnun? Die Worte sprangen in hilfloser Panik in ihrem Kopf herum. Ihr erster Impuls war es, nach Hause zu gehen. Aber zu Hause wohnte der Mörder. Sie zwang sich, die Dinge zu Ende zu denken.
Ihr kam in den Sinn, dass ihr Anruf vielleicht aufgenommen worden war. Ganz sicher war sie sich, als der nächste Anruf von Vance Jordan kam. Der Vermittler musste ihn gewarnt haben. „Clarissa, lass uns miteinander reden!“ Seine Stimme klang so wie immer. Ruhig. Väterlich. „Es ist nicht so, wie du denkst.“
„Ich denke gar nichts. Ich weiß, was passiert ist.“
„Kindchen, du hast das falsch verstanden! Was passiert ist – ein kleiner Dealer hat die Jungen erschossen. Ich bin sicher, der Mistkerl wird noch heute Nacht verhaftet, undmorgen ist alles vorbei.“
„Das ist eine Lüge“, sagte sie. „Ich habe es gesehen, und ich kann es beweisen.“
„Du kannst einen Scheißdreck beweisen, Mädchen! Und ich habe das ganze Department auf meiner Seite. Mein Gott, ich spiele mit den anderen Detectives Golf. Ich bin der verdammte Patenonkel vom Erstgeborenen des Chefermittlers, und der diensthabende Sergeant berichtet an mich.“
Sie wusste, dass das stimmte. Er war der strahlende Held des Reviers und umgeben von einer ganzen Reihe Verbündeter. „Ich kann es beweisen“, wiederholte sie stur.
„Warum – weil du etwas gesehen hast? Weißt du, was für ein Witz ein Augenzeuge ist? Sogar der dümmste Pflichtverteidiger würde dich in Stücke reißen. Niemand verurteilt jemanden aufgrund der Aussage einer einzigen Augenzeugin, vor allem nicht, wenn es sich dabei um ein Mädchen wie dich handelt. Du würdest vermutlich wegen Meineids in den Knast gehen. Diese Jungs bedeuteten nichts als Ärger – wenn ich sie nicht aufgehalten hätte, hätten sie dir wehgetan. Komm schon, Clarissa! Du weißt doch, dass ich dir nie wehtun würde.“
In dem Moment wusste sie, dass er sie umbringen würde. Da war etwas in
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