Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
PROLOG
Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan
S ein Frühstück bestand aus Pommes frites, die schmeckten wie Schuhsohlen. Dazu servierte man Rührei aus Eierkonzentrat, das ihn aus dem in kleine Fächer unterteilten Tablett anstarrte. Sein Becher war mit einer kaffeeähnlichen Substanz gefüllt, die von einem weißlichen Pulver aufgehellt wurde. Um ihn herum herrschte der übliche Kantinen-Lärm.
Am Ende seines zweijährigen Einsatzes fiel es Ross Bellamy schwer, dieses Essen auch nur anzusehen. Er war an seine Grenzen gekommen. Zum Glück war heute sein letzter Tag. Er kam ihm allerdings vor wie jeder andere Tag auch: langweilig und doch angespannt aufgrund der ständig in der Luft liegenden Bedrohung. Das Knistern von Funkgeräten bildete das Hintergrundgeräusch zum Klappern des Bestecks; ein Geräusch, das ihm inzwischen so vertraut war, dass er es kaum noch hörte. Am Kommandostand wartete jemand aus der Dustoff-Einheit darauf, dass das nächste medizinische Evakuierungsteam angefordert wurde. Denn ein Sanitätstrupp wie der von Ross musste jeden Tag, jede Stunde damit rechnen, in den Helikopter zu springen, um zu einem Noteinsatz geflogen zu werden.
Als das Walkie-Talkie losging, das an seiner Hemdtasche klemmte, schob er sein unappetitliches Frühstück ohne einen Blick des Bedauerns zur Seite. Der Ruf war das Signal für die diensthabende Crew, sofort alles stehen und liegen zu lassen – auch die Gabel, mit der man gerade ein Stück undefinierbares Fleisch zum Mund führen wollte. Ein Pokerspiel, bei dem man gerade auf der Gewinnerstraße war. Einen Brief an seine Liebste, der mitten im Satz abgebrochen und vielleicht nie mehr vollendet würde. Ein Traum von zu Hause, wenn man schläft. Ein Mann mitten im Gebet oder erst zur Hälfte rasiert.
Die Rettungshubschraubereinheiten waren stolz auf ihre Reaktionszeiten – fünf bis sechs Minuten vom Alarm bis zum Abheben. Männer und Frauen setzten sich in Bewegung, einige kauten noch, andere trockneten sich nicht mal mehr zu Ende ab, während sie in die Rollen schlüpften, die so hart und ihnen vertraut waren wie ihre Stiefel mit den Stahlkappen.
Ross biss die Zähne zusammen und fragte sich, was der Tag wohl für ihn bereithielt. Er hoffte, dass er ihn überstehen würde, ohne getötet zu werden. Er brauchte seine Entlassung, und er brauchte sie jetzt. Sein Großvater war krank, schon eine ganze Weile. Ross vermutete, dass es wesentlich ernster um ihn stand, als die Familie zugab. Es war schwer, sich seinen Großvater krank vorzustellen. Granddad war immer ein überlebensgroßes Vorbild gewesen. Von seiner Leidenschaft fürs Reisen bis zu seinem herzhaften Lachen, das einen ganzen Saal voller Menschen zum Lächeln bringen konnte. Für Ross war er mehr als ein Großvater. Was während seiner Kindheit geschehen war, hatte ein besonderes Band zwischen ihnen geschaffen, das bis heute ihre Beziehung bestimmte.
Aus einem Impuls heraus schnappte er sich den letzten Brief seines Großvaters und steckte ihn in die Brusttasche seiner Fliegerjacke, sodass er ihn nah am Herzen trug. Dass er diesen Drang verspürte, sah Ross nicht gerade als gutes Omen.
„Gehen wir, Leroy!“, sagte Nemo, der Crew Chief der Einheit. Dann sang er wie immer die ersten Zeilen von Get up Offa That Thing von James Brown.
Die Wege in der Army waren genauso unergründlich, wie man es von Gottes Wegen sagte, und so hatte Ross hier den Spitznamen Leroy verpasst bekommen. Es hatte angefangen, als sein Platoon ein wenig – viel zu wenig – über seinen familiären Hintergrund erfahren hatte. Die hochtrabenden Schulen, die Ivy League, die berühmte Familie – das alles hatte ihn zum perfekten Ziel für ihren Spott gemacht. Nemo hatte ihn „Little Lord Fauntleroy“ genannt, nach Der kleine Lord. Daraus war dann Leroy geworden und bis heute geblieben.
„Ich bin dabei.“ Ross ging mit großen Schritten in Richtung Helipad. Ranger und er würden den Vogel heute fliegen.
„Viel Glück mit dem FNG!“
FNG stand für „Fucking New Guy“ und bedeutete, dass Ross einen Neuling an Bord haben würde. Er schwor sich, nett zu ihm zu sein. Denn wenn es die neuen Jungs nicht gäbe, würde er hier für immer festsitzen. Doch laut dem Befehl, den er bekommen hatte, stand er kurz davor, sein „für immer“ endlich zu beenden. In wenigen Tagen war er wieder in den Staaten, vorausgesetzt, er ließ sich heute nicht umbringen.
Der FNG stellte sich als Frau heraus, eine Sanitäterin namens Florence
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