Sommer
grausam sei, habe ich auch schon sagen hören, doch ist gerade das doch wohl eine typisch anthropozentrische Auffassung, und daß die Natur irgendwelche Zwecke habe, glaube ich auch nicht. Sie existiert, sie ist da und ist tätig, und wir gehören dazu und sind immer dann ganz sicher auf dem Holzweg, wenn wir uns über »die Natur« Gedanken machen und sie als etwas Fremdes und Feindliches empfinden.
Lieber Herr Oberlehrer, ich weiß, wieviel Sie von Ihrem Herrn Vetter halten, und ich zweifle nicht, daß er Verdienste hat. Aber seine Schadenberechnungen imponieren mir keineswegs. Voriges Jahr hat er, der Nässe wegen, noch viel größere Schadenssummen ausgerechnet, also müßte doch dieses Jahr ein kleiner Überschuß da sein? Aber Ihr Vetter rechnet eben nach Normaljahren, die es nirgends gibt als in seinem Kopf oder Notizbuch, und das halte ich für ganz willkürlich und irreführend. Daß der Hitze wegen manche Bäume und Felder nichts tragen, die sonst vielleicht auch nichts getragen hätten, ist ja nicht gar so schrecklich. An meinem Hause ist heute ein Automobil vorbeigefahren, aus dem ganz gut ein reicher Amerikaner hätte aussteigen, mich als entfernten Vetter begrüßen und mir ein Geschenk von zweihundert Talern hätte machen können. Da niemand ausstieg, habe ich also heute einen Schaden von zweihundert Talern erlitten, den Staub im Garten gar nicht gerechnet.
Sehen Sie, wir werden trotz Ihrer freundlichen Bemühungen immer »Gegner« bleiben. Nicht weil Sie Lehrer sind; denn ich kenne recht viele Lehrer, die ich hochschätze und mit denen ich sehr gut befreundet bin. Sondern aus ganz anderen Gründen. Zum Beispiel vor allem aus dem Grunde, weil Sie immer und immer etwas zu klagen und anzukreiden haben. Sie haben sich seit Monaten mit Inbrunst schönes Wetter für Ihre Sommerferien gewünscht, und nun, wo dieser Wunsch so glänzend in Erfüllung gegangen ist, wissen Sie nur zu klagen. Wenn Sie ausgehen, sehen Sie nur verbrannte Wiesen und eingehende arme Obstbäume oder Kartoffelstauden. Sehen Sie nicht auch Berge und Gletscher, Bachtäler und Felswände? Und sehen Sie die nicht klarer und leuchtender und farbiger, als irgend jemand sie seit Jahren gesehen hat? Aber davon sagen Sie nichts. Und Sie treffen immer Leute an, die zu klagen haben und unzufrieden sind! Mag der Bauer mit seinen Pflaumen und seinen Futterwiesen recht haben! Aber sehen Sie nicht auch Kranke, die der Sonne herzlich froh sind, Kinder, die sich der glänzenden Ferienzeit mit Jubel freuen, Käfer und Schmetterlinge, Eidechsen und andere Sonnenfreunde, die dies Jahr glänzender und schöner sind und ihres kurzen Lebens froher als je?
Ich muß sagen, mir macht dieser warme Sommer eine mächtige Freude, obwohl ich nicht in den Bergen sitze, sondern hier unten, und obwohl ich jeden lieben Tag ein paar Stunden lang im Garten Wasser tragen muß, was bei der Wärme nicht leichtfällt. Dafür hat man doch einmal warm und hell, wie es zum Sommer gehört! Ich gestehe, mir ist schon ein wenig bang auf den Herbst, und da ich nun einmal so schön durchgesonnt bin und mich an Licht und Wärme gewöhnt und verwöhnt habe, fällt mir der Abschied davon schon imvoraus so schwer, daß ich beschlossen habe, mich darum zu drücken und im September durchs Rote Meer nach Ceylon und Sumatra zu fahren.
Sie werden nun wieder finden, das sei lauter Widerspruchsgeist bei mir. Aber es ist doch nicht so, wenn ich schon eine gewisse Freude daran habe, Sie immer und immer wieder auf der Seite der Opposition zu sehen und so in einer Art von Antipodenverhältnis zu Ihnen zu stehen. Sehen Sie, Sie stehen immer da, wo getadelt und geklagt wird. Sie sehen nicht den strahlenden Gletscher, sondern den verdorrenden Kartoffelacker, und Sie geben nicht den frohen Kindern, Touristen und Schmetterlingen recht, sondern dem wehklagenden Bauer und Ihrem gescheiten, gefährlichen Vetter! Und meine Meinung vom Leben ist nun einmal die, daß es besser ist, da zu stehen, wo die Kinder und Schmetterlinge stehen, daß es besser ist, das Leben und die Natur überall im Recht zu sehen und überall zu billigen, auch wo es mir einmal über die Finger geht. Ich habe auch Nerven, und ich seufze manche Nacht gewaltig, wenn Hitze und Schnaken mich nicht zu Schlaf kommen lassen; aber ich suche nicht, aus meiner Schwäche ein System zu machen und aus meinen Beschwerden Stoff zu Anklagen gegen die Natur. Ich tue das nicht aus Moral oder aus irgendeiner Theorie, sondern weil das Gegenteil
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