Soul Kitchen
unter Zwang führten alle Gespräche zu diesem Thema.
Einmal, an einem einsamen Sonntagmorgen, hatte ich sogar mit der Frau, die mir vor der Bäckerei die Bild am Sonntag verkaufen wollte, über Martha gesprochen.
Mein anderes großes Thema war Sex. Doch darüber sprach ich nie, denn Menschen, die keinen Sex haben, erfüllen in unserer Welt die Rolle, die früher einmal die Leprakranken hatten: Sie sind Ausgestoßene. Mit meiner Therapeutin diskutierte ich immer wieder darüber, und sie versuchte ständig, mich eines Besseren zu belehren:
„Denken Sie bei jeder Frau, der Sie begegnen, an Sex?“
„Äh … ja!“
„Das ist falsch! Schließen Sie Freundschaften mit Frauen. Der Rest wird sich ergeben.“
Ich mochte meine Therapeutin sehr gern, auch wenn wir oft nicht einer Meinung waren. Und immerhin war sie die einzige Frau, von der ich annahm, sie kümmere sich uneigennützig und liebevoll um mich, auch wenn die Allgemeine Ortskrankenkasse sie dafür bezahlte.
Ich beschloss also, Freundschaft mit der Bedienung zu schließen, in der Hoffnung, der Rest würde sich ergeben.
„Würden Sie mir noch einen Kaffee bringen?“
„Gern.“
„Sie haben so einen schönen Akzent. Wo kommen Sie denn her?“
„Ungarn.“
„Sehr schön. Sind Sie schon lange hier?“
„Das ist meine erste Tag. Hab ich angefangen zu studieren hier.“
„Interessant. Was studieren Sie denn?“
„BWL. Aber entschuldigen Sie mich, ich habe viel zu tun.“
BWL-Studentin. Schwieriges Terrain für einen Menschen wie mich, der, was die Finanzen betraf, gerade mal imstande war, einen Bankautomaten zu bedienen. Ob sie wusste, dass Rimbaud nicht Rambo ist und Lorca kein Mittelmeerfisch?
Aber sie hatte wieder so schön gelächelt. Und warum wollte ich plötzlich nur noch mit Frauen schlafen – oder besser: Freundschaft schließen –, die sich in der Literaturgeschichte auskannten? Martha hatte sich ja auch nicht ausgekannt.
Die Ungarin brachte mir meinen zweiten Kaffee, und ich wagte einen Angriff, ganz geradeheraus. „Haben Sie Lust, mit mir essen zu gehen?“
„Oh, hab ich nicht einmal Zeit zum Sterben, und außerdem noch eine kleine Hund zu Haus, um den ich mich muss kümmern.“
„Einen kleinen Hund? Sehr nett. Ich liebe Tiere.“
„Vielen Dank aber für Einladung. Vielleicht im Sommer wird es besser gehen.“
Im Sommer … – Jetzt begann der Herbst. Und kleine Hunde konnte ich noch nie leiden.
Eine SMS von Bastian holte mich aus meinen Phantasien zurück:
Papa, ich hab eine 6 in Mathe .
Er war seit einiger Zeit zu der Taktik übergegangen, schlechte Nachrichten per SMS zu schicken, wohl um mir Zeit zu geben, mich bis zum Nachmittag wieder zu beruhigen. Das rührte mich durchaus. Dennoch war es ein Trauerspiel. Wochenlang hatte ich ihn gedrängt, sich auf diese Schulaufgabe vorzubereiten, und immer hatte er sich daraufhin brav in sein Zimmer zurückgezogen. Wenn ich dann aber leise die Tür öffnete, um nach ihm zu sehen, blickte er verträumt aus dem Fenster oder malte Kringel in sein Heft. Schließlich engagierte ich einen Studenten, der ihm Nachhilfe gab und der schon nach der ersten Stunde bestätigte, was ich ohnehin wusste: Der Junge ist intelligent und versteht eigentlich alles. Und jetzt also doch wieder ein Fehlschlag. Bastians Schullaufbahn war nur mehr eine Folge von Niederlagen.
Am Nachmittag kam er nach Hause. Er sagte nicht viel, aß wenig, legte sich auf sein Bett und hörte Musik. Ich setzte mich zu ihm, legte ihm die Hand auf die Stirn und fragte mich, wie es gelingen sollte, den Knoten in diesem Kopf zu lösen.
Im Bastians Zimmer stand ein Regal voller Bücher, an den Wänden hingen Bilder von Punkbands, auf seinem iPod hatte er mehr Musik als ich in meinem Plattenschrank, auf dem Schreibtisch stand ein Computer, an dem er mit seinen Freunden kommunizierte, seine Zeit mit endlosen Spielen verbrachte und Zugang zu jedem erdenklichen Schweinkram hatte – es war heutzutage nicht mehr nötig, sich heimlich den Playboy zu besorgen, wenn man anatomische Studien betreiben wollte.
Ich war 30 Jahre älter als Bastian. Aber manchmal kam es mir vor, als hätte meine Kindheit sich nicht in einer anderen Zeit abgespielt, sondern auf einem anderen Stern.
Kapitel 3
Ich hätte dich im Kinderwagen erwürgen sollen, sagte meine Großmutter zu mir, als sie erfuhr, dass ich mich weigerte, am Sonntag in die Kirche zu gehen. Doch das war lange nach der Zeit, als ich mit ihr am Fenster gesessen und ihren Geschichten
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