Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Berliner Weißbierphilister rechnen. Das sind Leute, die nicht begreifen können, dass die Berliner Stadtverordneten jetzt nicht mehr zu parlamenteln, sondern nur Ordre zu parieren haben. Den Stadtverordneten liegt es lediglich ob, für Berlin im Einzelnen auszuführen, was die Regierung für das ganze Land bestimmt. Berlin hat für seine im Reichshaltsetat festgesetzte Bevölkerungszahl so viel auszugeben, wie für jedes Jahr in diesem Etat für neue Häuser oder öffentliche Anlagen und kommunale Einrichtungen ausgeworfen werden wird, nicht mehr und nicht weniger.
Gestern hat der Reichskanzler wieder einmal, wie der „Vorwärts" mit Recht rühmt, in seiner zielbewussten Weise im Reichstag gesprochen, und einen einstimmigen Beschluss erzielt. Es handelte sich darum, ob ein Versuch gemacht werden soll, das platte Land dadurch zu beruhigen, dass das ländliche Privateigentum nicht zu Gunsten der Gesamtheit in Deutschland, sondern zu Gunsten sogenannter lokaler Produktivgenossenschaften aufgehoben wird, zu welchen die Einwohner jedes Ortes verbunden werden sollen.
„Solche aus Lassalles Zeit herrührenden und bereits 1891 vom Erfurter Parteitag abgetanen Irrtümer sollten doch nicht wieder aufleben. Aus einer solchen Organisation verschiedener Produktionsgenossenschaften würde ja eine selbständige Konkurrenz der einzelnen Orte unter einander mit Notwendigkeit folgen. Der Unterschied der Güte des Bodens in den verschiedenen Landstrichen und Ortschaften würde wieder Unterschiede von Reich und Arm mit sich bringen und damit dem Privatkapitalismus eine Hintertür öffnen. Eine planmäßige Organisation der Produktion und Konsumtion aber sowie eine sachgemäße Verteilung der Arbeitskräfte über das ganze Land duldet keinerlei Individualismus, keinerlei freie Konkurrenz, weder eine persönliche noch eine örtliche Selbständigkeit. Die Sozialdemokratie verträgt eben keine Halbheiten; man will sie entweder ganz oder man will sie nicht. Wir aber wollen sie voll oder ganz zur Wahrheit machen. “ (Lebhafter Beifall. )
8. Der letzte Familientag
Mit meinen beiden Frauensleuten, Frau und Schwiegertochter, habe ich heute einen schweren Stand gehabt. Es war Mutters Geburtstag, ein seit 26 Jahren mir lieber Gedenktag; aber eine frohe Stimmung kam heute nicht zur Geltung. Morgen reist Franz nach Leipzig, morgen müssen wir auch die beiden anderen Kinder abgeben. Großvater zieht in die Altersversorgungsanstalt.
Von alledem war mehr die Rede als vom Geburtstag. Großvater stimmte meine Frau schon vom frühen Morgen an weichmütig. Die Sozialdemokratie, so klagte er, ist unser aller Unglück; das habe ich immer kommen sehen. Ich schilderte ihm das gute, bequeme Leben, welches ihn in der Anstalt erwarte.
Was nützt mir dies alles, rief er aus. Ich soll dort mit fremden Leuten wohnen, essen und schlafen. Meine Tochter ist nicht um mich und sorgt nicht mehr für mich. Ich kann nicht rauchen wo und wie ich will. Mit Annie kann ich nicht mehr spielen, und Ernst erzählt mir nichts mehr aus der Schule. Auch aus deiner Werkstatt erfahre ich nichts. Wenn ich wieder einmal krank werde, dann bin ich ganz verlassen. Einen alten Baum soll man nicht versetzen; mit mir wird es nun bald zu Ende sein.
Wir trösteten ihn mit häufigen Besuchen. Ach, meinte er, mit solchen Besuchen ist es nur eine halbe Sache. Dabei ist man nicht recht unter sich und wird von andern gestört.
Wir ließen die kleine Annie, Großvaters Liebling, versuchen, ihn in ihrer schmeichlerischen Weise zu trösten. Das Kind war am muntersten von allen. Es hatte ihm jemand erzählt von vielem Kuchen, hübschen Puppen, kleinen Hunden, Bilderbüchern und allerlei schönen Sachen im Kinderheim. Davon plauderte sie in ihrer Art immer wieder aufs Neue.
Franz zeigte eine ruhige Entschlossenheit; er gefiel mir aber doch nicht. Es kommt mir vor, als ob er irgendetwas Besonderes plant, was er nicht verraten will. Hoffentlich verträgt es sich mit unseren Sozialdemokratischen Grundsätzen.
Mein anderer Junge, der Ernst, lässt es sich nicht so merken, wie er denkt und fühlt. Gegen seine Mutter war er überaus zärtlich, was sonst nicht gerade seine Sache ist. Er sollte jetzt in die Lehre kommen und hatte sich darauf gefreut. Der Junge hat eine geschickte Hand, aber mit dem Studieren will es nicht recht bei ihm vorwärts. Nun sollten aber alle Kinder in diesem Alter gleichmäßig noch ein paar Jahre studieren und dann erst eine Fachausbildung erlangen.
Mutter bereitet uns
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